Lerchenherzen
beschützenden Geste an sich zieht. Und er, der diese lärmenden Kinder noch nicht alle richtig kennt und deshalb ein bißchen ängstlich ist, schlingt die Arme um ihr Bein und verbirgt sein Gesicht in ihrer karierten Schürze.
In dieser Bewegung ist etwas so Selbstverständliches, daß es auf Milda tiefen Eindruck macht. Sie denkt, sie hätte wohl nie geglaubt, Mathilde könne ihr einmal wie eine Henne vorkommen, die ein Küken unter ihrem Flügel beschützt. Und sie schaut auf ihre eigenen unbändigen Küken und spürt plötzlich eine überwältigende Dankbarkeit, Mutter zu sein.
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An Sverres Heuwagen ist eigentlich nichts Besonderes, abgesehen davon, daß er verhältnismäßig neu ist und deshalb statt der altmodischen Karrenräder mit den hölzernen Speichen Gummiräder hat. Vorn die Räder sind klein, die hinteren etwas größer, und an den Seiten hat der Wagen hohe Gitterstäbe, die man Leitern nennt. Die Giebel vorn und hinten sind sechseckig wie alte Fenster und ungefähr gleich hoch, und an dem hinteren istdie lange Stange mit einem Strick befestigt, der durch eine Art Úse gezogen wird, eine an jedem seitlichen Pfosten. Die lange Stange ist aus Holz und wird benutzt, um die Heufuhre mit einem besonderen Kniff zu befestigen. Sie ist älter, als jemand erinnert, und von vielen Händen glattpoliert.
Natürlich hat Sverre nicht gezählt, wie oft er die Stange angehoben hat, als sie hinter dem Wagen hing, während das Heu aufgeladen wurde, wie oft er sie zu dem Kind hinaufgereicht hat, das zuoberst auf dem duftenden Heu thront und das sie entgegengenommen und mit dem Ende des Stricks im Ring vorne befestigt hat. Ebenfalls hat er nicht gezählt, wie oft er die Arme hochgestreckt hat, um ein Kind aufzufangen, das sich von der Heufuhre hinabgleiten ließ, ja, wenn man es genau betrachtet, kennt er zuzeiten nicht einmal die Zahl seiner Kinder.
Denn immerzu kommen auf Rønnigen neue Kinder an, und alle sind sie rotwangig, und alle haben die gleichen strahlenden Augen, haben Mutters Grübchen am Kinn und Vaters braunes lockiges Haar. Wer von ihnen sich die Gitterstäbe des Heuwagens – der war in einer schönen graublauen Farbe ganz frisch gestrichen – vorgenommen und mit einem Eimer Weiß dazu beigetragen hat, daß der Wagen anders aussieht als alle übrigen im Ort, über all das hat er einfach keinen Überblick.Und wer von ihnen den kleinen Splint aus dem Bolzen entfernt hat, der den eigentlichen Wagen mit den Vorderrädern und Deichseln befestigt, darüber macht er sich genau jetzt keine Gedanken, denn noch hat er nicht entdeckt, daß der nicht an Ort und Stelle sitzt.
Die Kinderschar, die da angefahren kommt, weiß das auch nicht, denn der Schuldige ist nicht unter ihnen. Er ist gerade dabei, den Splint – er ist so groß wie Sverres kleiner Finger und hat einen kleinen Ring am Ende – in die harte Erde hinter dem Stall zu hämmern. Wäre jemand gekommen und hätte ihn gefragt, warum, würde er vermutlich gefunden haben, dies sei die dümmste Frage von der Welt, hätte aber gleichzeitig nicht die leiseste Idee für eine Anwort parat.
Sverre ahnt also von diesen Dingen nichts, denn die Schwerkraft macht den Splint überflüssig, als er ganz vorn im Wagen steht und die Zügel des Pferdes hält. Die lange Stange hat er wieder an der Auffahrt zur Scheune abgelegt, was er bitter bereuen wird, denn später am Tag wird das gleiche Kind mit einer Axt ein paarmal so kräftig darauf hauen, daß sie nie wieder wurde, was sie gewesen war.
Nein, Sverre hat andere Dinge im Kopf, als er das Pferd vom Hof lenkt, denn da ist wieder eine Verkaufsattacke im Anzug, und deshalb treibt ihn die Ruhelosigkeit am hellichten Vormittag auf dieStraße, zu einer Zeit, wo er mit dem Winterweizen voll beschäftigt sein sollte oder mit den Dachziegeln des Scheunendachs.
Milda hat es schon lange gemerkt, denn sie kennt die Anzeichen. Vom Küchenfenster aus seufzt sie entmutigt hinter ihrem Mann her und knetet ein paar Tränen in den Brotteig auf dem Tisch und schickt ein stilles Gebet hoch zum Herrgott und hofft das Beste. Denn noch kann es vorübergehen.
Vielleicht haben die Kinder auch etwas gemerkt. Vielleicht ist es der Versuch, den Vater aufzuhalten, als sie angerannt kommen »Vater, Vater, wir wollen mit!« und sich auf den Wagen werfen, alle auf einmal. Sie krallen sich fest und klettern alle übereinander – mit dem Resultat, daß der Wagen kippt und der Vater ein paar Meter hoch in die Luft fliegt. Beim Anblick des
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