Lerchenherzen
Vaters weit über ihren Köpfen bekommen sie einen solchen Schrecken, daß sie loslassen und alle auf einmal vom Heuwagen springen, und dadurch landet Sverre ziemlich jäh und unsanft, besonders weil das Pferd mit den Vorderrädern unverdrossen weitergezottelt ist. Der Rücken ist so in Mitleidenschaft gezogen, daß Milda ihren Mann nur mit Mühe und Not auf das Sofa im Wohnzimmer bekommt, wo er drei Wochen auf einem Katzenfell liegt, das sie ihm vorsichtig unter das Kreuzbein schiebt. Und Milda gibt sich Mühe und versucht,seine Gemütsverfassung, die so auf Abwege geraten ist, abwechselnd durch warme Milch mit Honig und Kamillentee – und dann und wann mit einem Schluck Johannisbeerwein zu beruhigen. Sie plagt und müht sich für zwei, während sie mit der einen Hand den Kloeimer ausleert, hält sie mit der anderen die Kinder vom Vater fern.
Und abends faltet sie die Hände und dankt Gott, weil es so aussieht, als ob die Verkaufsattacke für dieses Mal vorüberzugehen scheint. Mehr als einmal aber schläft sie mitten im Dankgebet ein.
Den Splint vom Heuwagen finden sie erst einige Wochen später wieder, als eines der Kinder, tatsächlich das gleiche, das ihn früher in die Erde hämmerte, das aber selbstverständlich längst vergessen hat, über ihn stolpert und sich die Mittelzehe des linken Fußes bricht. So erhält auch er für einige Wochen einen beschränkten Aktionsradius. »Nichts ist so schlimm, als daß es nicht für etwas gut ist«, lautet Mildas Motto.
43
Sverre ist so nett, seufzen die Leute im Ort und blicken ihm ein wenig resigniert hinterher, wenn er während einer seiner Verkaufsattacken von Hofzu Hof fährt. Und er ist nett. Er ist sowohl nett als auch geschickt als auch arbeitsam, der Mann auf Rønnigen. Er ist der Bruder von Gudrun, der Mutter Solfrids, und verheiratet mit Milda, der ältesten Schwester von Ragnhild, die den elterlichen Hof übernommen hat.
Die Geschwister Ragnhilds sind in alle Winde verstreut. Die Mädchen sind in anderen Ortschaften verheiratet, und die Zwillingsbrüder sind in die Welt hinausgefahren und haben sich an fernen Orten niedergelassen mit Namen wie Brooklyn oder Seattle, wo sie Handel oder Handwerk betreiben und regelmäßig Botschaften nach Hause schicken, von Straßenkreuzern und Big Business.
Sverres Gemütsverfassung ist so unbeständig. Nein, nicht unbeständig, denn im großen und ganzen ist er stetig und freundlich, aber gelegentlich gibt es Phasen, da gehen Laune und Unternehmungslust mit ihm durch. Man sollte ihn und Gudrun, seine Schwester, zusammen in einen Sack stecken und ordentlich durchschütteln und das, was dabei herauskommt, auf alle beide gleichmäßig verteilen, scherzen die Leute, und da ist was dran. Denn während Sverre wie aufgezogen umhersaust und unerhört munter und voller Ideen und Grillen ist, die seiner Umgebung das Leben schwermachen können, zieht sich Gudrun die Decke über den Kopf, randvoll mit Selbstvorwürfenund Vorstellungen von der eigenen Unzulänglichkeit.
Seite an Seite mühen sich Milda und Sverre mit Kindern und Vieh ab, so wie es auch alle anderen im Ort tun, aber Sverre geht im Winter nicht mit zum Walfang, über das eine Mal, wo er es versuchte, wird nie gesprochen. Nein, er hält sich zu Hause auf und ist fleißig bei allem, was er tut, aber eben höchst umtriebig, wenn er eine seiner Attacken bekommt.
Dann wird er von einer so unbegreiflichen Unternehmungslust gepackt. Der Alltag auf dem Hof ist in diesen Phasen für ihn viel zu eng und still. Dann ist er überzeugt, er sollte Hausierer sein, um von Tür zu Tür zu ziehen und zu verkaufen, egal was, ob Tiere oder Haushaltswaren.
Für Milda und die Kinder hätte es böse ausgehen können, aber zum Glück sitzen auf den Höfen ringsum Alte, die schon einige seiner Verkaufsattacken mitgemacht haben und die gerne einen Hinweis haben wollen, wenn sich eine neue ankündigt. Sie haben Witz und Verstand genug, um den Mann zu bremsen, wenn er mit irgendwelchen Sachen vor der Tür steht, mit Mildas Geschirr oder dem kostbaren Spielzeug der Kinder, um sie dem erstbesten, dem er begegnet, für einen Spottpreis zu verkaufen.
So kommt er zum Beispiel eines schönen Tages Ende März über die Straße geschritten, unter demArm den prachtvollen, schwarzen Hahn. Fast schlüpft er über den Hofplatz auf Lund vorbei, ehe ihn Harriet erwischt. Beide, er und der Hahn, sind in Hochform, er, weil er vollkommen überzeugt ist, daß er in der Welt genau hierfür auserkoren ist; der
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