Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Montfermeil kam. Der Großvater ließ Jean Valjean verblassen.
Wohl stellte Javert einige Fragen, um zu prüfen, wie weit Thénardiers Bericht stichhaltig war. Wer war denn dieser Großvater, und wie hieß er?
»Ein begüterter Bauer. Ich habe seinen Paß gesehen. Wenn ich mich nicht irre, hieß er Guillaume Lambert.«
Lambert ist ein Name, der gutmütig und beruhigend wirkt. Javert fuhr nach Paris zurück.
Jean Valjean ist tot, dachte er, und ich bin mit der Nase gegen eine Mauer gestoßen.
Er war eben dabei, diese Geschichte wieder zu vergessen, als er im März 1824 von einer absonderlichen Persönlichkeit hörte, die in der Pfarrei Saint Médard wohnte und »der Bettler, der Almosenverteilt« genannt wurde. Dieser Mensch sei, wurde gesagt, ein Rentner, dessen Name man nicht genau anzugeben wisse und der mit einem kleinen, achtjährigen Mädchen zusammenlebe, von dem auch nicht mehr bekannt sei, als daß es aus Montfermeil stamme.
Montfermeil!
Javert stutzte.
Ein alter Bettler, der Spitzeldienste leistete, ein ehemaliger Kirchendiener, dem jener Unbekannte Almosen zusteckte, gab noch weitere Einzelheiten. Dieser Rentner sei ein ganz absonderlicher Mensch, gehe nur des Abends aus, spreche mit niemand außer einigen Bettlern und lasse keinen an sich herankommen. Er trage einen schauerlichen alten, gelben Rock, der einige Millionen wert sei, denn der Alte habe ihn ganz und gar mit Tausendfrankennoten ausgestopft.
Dieser Bericht reizte Javerts Neugierde. Um diesen Rentner aus nächster Nähe zu sehen, ohne ihn kopfscheu zu machen, entlieh er eines Tages diesem Kirchendiener seine Kleider und hockte sich an dem Platz, den sonst der alte Spitzel einnahm, Gebete vor sich hinnäselnd und spionierend, nieder.
Das verdächtige Individuum näherte sich wirklich dem also verkleideten Javert und bot ihm ein Almosen. Javert hob den Kopf und war, als er Jean Valjean zu erkennen glaubte, nicht weniger außer sich als jener selbst.
Immerhin war es möglich, daß die Dunkelheit ihn getäuscht hatte. Schließlich war Jean Valjeans Tod offiziell gemeldet. Javert zweifelte ernsthaft. Als gewissenhafter Mann wollte er niemand am Kragen packen, bevor er seiner Sache nicht sicher war.
Er ging dem Manne also bis zum Gorbeauschen Haus nach und versuchte »die Alte«, die Vermieterin, zum Sprechen zu bringen. Das war nicht schwer. Die Alte bestätigte die Sache mit den verborgenen Millionen und erzählte ihm die Geschichte von dem Tausendfrankenschein. Sie hatte ihn gesehen, ja, sie hatte ihn mit ihren eigenen Händen berührt! Javert mietete ein Zimmer in dem Haus. Am selben Abend hielt er seinen Einzug. Er lauschte an der Tür des geheimnisvollen Mieters, weil er hoffte, ihn am Klang seiner Stimme wiederzuerkennen, aber Jean Valjean hatte den Kerzenschimmer durch das Schlüsselloch bemerkt und bewahrte Stillschweigen. Am nächsten Tage machte sich Jean Valjean davon. Aber der Lärm des Fünffrankenstückes, das zu Boden gefallen war, hattedie Alte aufmerksam gemacht, die sofort auf den Gedanken kam, ihr Mieter wolle ausrücken, und Javert schleunigst davon in Kenntnis setzte. Als Jean Valjean abends fortging, erwartete ihn Javert bereits mit zwei anderen Leuten hinter den Bäumen des Boulevards.
Er hatte auf der Präfektur angegeben, daß er eine Verhaftung vornehmen wollte, hatte aber den Namen des Individuums nicht genannt, das er zu greifen hoffte. Den hielt er geheim, und dazu bewogen ihn drei Gründe. Erstens konnte die geringste Indiskretion Jean Valjean alarmieren; zweitens bedeutete einen alten entsprungenen Sträfling, der früher zu den gefährlichsten Verbrechern gezählt worden war und jetzt für tot galt, wieder einzubringen, einen glänzenden Erfolg, den die Pariser Polizisten gewiß einem Neuling aus der Provinz, wie Javert, nicht gönnen würden; er mußte also befürchten, daß man ihm den Galeerensträfling wegschnappen würde; drittens und letztens war Javert ein Künstler. Er liebte das Unvorhergesehene und haßte die Erfolge, deren Reiz durch vorherige Ankündigung herabgemindert ist. Gern arbeitete er seine Meisterwerke im Dunklen aus und enthüllte sie dann mit einer einzigen Gebärde.
So war Javert Jean Valjean von Baum zu Baum, von Straßenecke zu Straßenecke gefolgt und hatte ihn keinen Augenblick lang aus der Sicht verloren; auch als Jean Valjean sich in Sicherheit wiegte, hatte Javerts Auge auf ihm geruht. Warum verhaftete Javert Valjean nicht?
Weil er noch immer zweifelte.
Man muß in Betracht
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