Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
einer alten Jungfer zu einem ledernen Schulmeister hinüber. Marius kam auf das Gymnasium, schließlich studierte er Jura. Er war Royalist von strengster Observanz. Seinen Großvater, dessen Heiterkeit und Zynismus ihm mißfiel, konnte er nicht leiden, und an seinen Vater dachte er nur ungern.
Übrigens war er feurig und kalt, vornehm, großmütig, stolz, exaltiert, rechtschaffen bis zur Härte gegen sich selbst, rein bis zur Absonderlichkeit.
Der Tod des Banditen
Ungefähr zur selben Zeit, da Marius seine Studien beendete, zog sich Gillenormand endgültig aus der Gesellschaft zurück. Der Greis sagte dem Faubourg-Saint-Germain adieu, verabschiedete sich von Madame de T. und übersiedelte in sein Haus in der Rue des Filles-du-Calvaire. Seine Dienerschaft entließ er und beschränkte sich auf Nicolette und den Basken, die wir bereits dem Leser vorgestellt haben.
1827 sollte Marius siebzehn Jahre alt werden.
Als er eines Abends nach Hause kam, trat ihm sein Großvater mit einem Briefe entgegen.
»Marius«, sagte er, »du fährst morgen nach Vernon.«
»Wozu?«
»Du mußt deinen Vater besuchen.«
Marius fuhr zusammen. Alles, nur dies nicht hatte er erwartet, daß er seinen Vater jemals von Angesicht zu Angesicht sehen sollte. Die Vorstellung kam ihm unerwartet und war ihm peinlich. Er empfand nicht ein Bedauern, er fühlte sich gedemütigt.
Marius war, von seinen politischen Gefühlen abgesehen, überzeugt, daß sein Vater, der Säbelraßler, wie ihn Gillenormand nannte, ihn nicht liebe; das war doch schließlich klar, denn wie hätte er sonst seinen Sohn verlassen und anderen anvertrauen können. Marius glaubte sich nicht geliebt und liebte nicht.
Er war so verblüfft, daß er Gillenormand fragte.
»Er ist, scheint es, krank. Er verlangt nach dir«, sagte der Großvater. »Reise morgen früh. Ich glaube, von der Cour des Fontaines geht um sechs Uhr früh ein Wagen ab, der abends ankommt. Nimm diesen.«
Damit zerknitterte er den Brief und steckte ihn in die Tasche.
Marius hätte auch am Abend reisen und schon am nächsten Morgen bei seinem Vater sein können. Eine Postlinie versah damals den Nachtdienst nach Rouen und berührte Vernon. Aber weder Gillenormand noch Marius dachten daran, sich zu erkundigen.
Am Abend des nächsten Tages kam der junge Mann nach Vernon. Man war gerade dabei, die Kerzen anzuzünden. Er fragte den erstbesten, wo das Haus des Herrn Pontmercy sei. Er war ein Parteigänger der Restauration und wollte seinem Vater weder den Oberstenrang noch die Baronie bewilligen.
Man zeigte ihm das Haus. Er schellte, und eine Frau, die eine kleine Lampe in der Hand hielt, öffnete.
»Wohnt hier Herr Pontmercy?«
Die Frau antwortete nicht.
»Ist es hier?«
Die Frau nickte mit dem Kopf.
»Kann ich mit ihm sprechen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin sein Sohn, er erwartet mich.«
»Er erwartet Sie nicht mehr.«
Jetzt bemerkte er, daß sie weinte.
Sie deutete auf ein niedriges Zimmer; er trat ein.
In dem von einer Kerze, die am Kamin stand, erleuchteten Raum befanden sich drei Männer: einer stand aufrecht, einer kniete, ein dritter lag, in ein Hemd gehüllt, lang ausgestreckt auf dem Boden. Das war der Oberst.
Die beiden anderen waren der Arzt und ein Priester, der die Totenwache hielt.
Der Oberst war vor drei Tagen von einem heftigen Fieber befallen worden. Von schlimmen Ahnungen geplagt, hatte er an Gillenormand geschrieben und nach seinem Sohn verlangt. Bald nahm die Krankheit eine schlimme Wendung. Am Abend der Ankunft Marius’ in Vernon hatte der Oberst in einem Fieberanfall sich aus dem Bett entfernt und gerufen: »Mein Sohn kommt nicht! Ich gehe ihm entgegen!«
Er hatte sein Zimmer verlassen, war aber im Vorzimmer zusammengebrochen und bald gestorben.
Man rief den Arzt und den Priester. Sohn, Arzt und Priester kamen zu spät.
Im schwachen Schein des Kerzenlichtes konnte man auf der narbigen Wange des Obersten eine schwere Träne sehen, die sich aus seinem toten Auge gelöst hatte. Das Auge war erloschen, die Träne noch nicht vertrocknet. Sie hatte der Verspätung seines Sohnes gegolten.
Marius betrachtete diesen Mann, den er zum erstenmal und zugleich zum letztenmal sah, dieses edle, männliche Gesicht, diese offenen, jetzt blicklosen Augen, diese weißen Haare und diese kräftigen Glieder. Braune Narben zeigten überall Spuren von Säbelhieben, Flecken die Einschüsse von Kugeln. Der Junge betrachtete die gewaltige Narbe auf dem Heldenantlitz, dem Gott doch das Mal der
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