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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Pontmarie oder Montpercy … einen furchtbaren Säbelhieb hatte er im Gesicht.«
    »Pontmercy«, sagte Marius erblassend.
    »Richtig, Pontmercy. Haben Sie ihn gekannt?«
    »Er war mein Vater«, sagte Marius.
    Der Kirchenälteste faltete die Hände und rief aus:
    »Sie sind der Junge?! Ach ja, jetzt muß es ja wohl schon einMann sein. Oh. Sie können wahrhaftig sagen, daß Ihr Vater Sie geliebt hat!«
    Marius bot dem Greis seinen Arm und führte ihn nach Hause. Am nächsten Tag sagte er zu Gillenormand:
    »Ich habe mit einigen Freunden eine längere Jagdpartie verabredet. Wollen Sie mich für drei Tage beurlauben?«
    »Für vier«, erwiderte der Großvater. »Geh nur und amüsiere dich gut.«
    Er blinzelte seiner Tochter zu und sagte:
    »Da steckt ein Frauenzimmer dahinter!«
Ergebnisse des Gespräches mit dem Kirchenältesten
    Wohin Marius fuhr, wird der Leser später erfahren. Er blieb drei Tage fort, dann kehrte er nach Paris zurück, eilte schnurgerade in die Bibliothek der Rechtsschule und verlangte die Sammelbände des »Moniteur«.
    Er las den »Moniteur«, las die Geschichte der Republik und des Kaiserreichs, das Memorial von St. Helena, Zeitungen, Bulletins, Proklamationen. Alles verschlang er. Als er dem Namen seines Vaters zum erstenmal begegnete, hatte er eine Woche lang Fieber. Dann besuchte er alle alten Generäle, unter denen sein Vater gedient hatte. Den Kirchenältesten Mabeuf bat er, ihm von dem Leben in Vernon zu erzählen, von dem Alterssitz des Obersten, seiner Einsamkeit und seinen Blumen. Schließlich gelangte Marius so weit, das Leben dieses erhabenen und sanften Menschen, dieses Löwen und Lammes zugleich, ganz zu kennen.
    Diese Beschäftigung nahm seine ganze freie Zeit, all seine Gedanken in Anspruch, so daß er sich bei den Gillenormands kaum mehr blicken ließ. Bei den Mahlzeiten erschien er; suchte man ihn später, so war er fort. Die Tante murrte. Papa Gillenormand lächelte.
    »Na, er kommt jetzt in die Zeit«, sagte er. »Teufel, der legt sich aber ins Zeug! Mir scheint, das ist eine wahre Leidenschaft.«
    Gleichzeitig vollzog sich in Marius eine vollständige geistige Wandlung. Die Geschichte, die er studierte, wurde ihm eine neue Wahrheit.
    Zuerst blendete sie ihn. Republik, Kaiserreich, alles das waren fürihn bisher nur Worte gewesen. Die Republik – eine Guillotine in der Dämmerung, das Kaiserreich ein Säbel in der Nacht. Wo er nur Finsternis zu finden glaubte, hatte er mit unerhörtem Staunen, in das sich Furcht und Freude mischte, edle Sterne erstrahlen sehen. Er wußte nicht, wohin er geraten war. Der Glanz des Ruhmes blendete ihn. Sobald die erste Verwunderung vorüber war, gewöhnte er sich daran, er begann wieder klar zu sehen und prüfte die Gestalten der Geschichte unvoreingenommen. Jetzt nahmen Republik und Kaiserreich neue Gestalten an. Beide stellten gewaltige Taten dar. Die Republik bedeutete die Wiedereroberung der Menschenrechte durch das Volk, das Kaiserreich den Siegeszug der französischen Idee durch Europa. Er sah in der Revolution die gewaltige Erscheinung des Volkes, im Kaiserreich die Riesengestalt Frankreichs sich aufrecken. Und er begriff, daß dies alles gut gewesen sei.
    Plötzlich war ihm klar, daß er bis zu diesem Augenblick weder sein Land noch seinen Vater begriffen hatte. Weder sein Land noch seinen Vater hatte er gekannt, hatte in einer Art freiwilliger Blindheit gelebt.
    Jetzt beklagte er, daß er nur mehr vor einem Grabe sagen konnte, was seine Seele bedrückte. Der Kummer darüber ließ ihm keine Ruhe, jeder Atemzug war ein Seufzen, und er wurde strenger, ernster und seines Glaubens sicherer. Immer neue Erkenntnisse erschlossen sich ihm. Es war ein einziges großes, inneres Wachsen.
    Als dieser geheimnisvolle Prozeß beendigt war, der aus einem »Ultra« und Bourbonenanhänger einen Royalisten, einen Revolutionär, Demokraten, ja sogar Republikaner gemacht hatte, ging er zu einem Kupferstecher auf dem Quai des Orfèvres und bestellte hundert Visitenkarten auf den Namen:
    Baron Marius Pontmercy.
    Das war nur die logische Folgerung des Wandels, der sich in ihm vollzogen hatte und der von seinem Vater ausging. Da er aber keine Bekannten hatte und seine Karten doch nicht bei Pförtnern abgeben konnte, behielt er sie in der Tasche.
    Eine weitere natürliche Folge dieser inneren Wandlung war, daß er sich im Ausmaße, in dem er seinem Vater näherkam, von seinem Großvater entfernte. Wir haben bereits gesagt, daß Gillenormands Charakter ihm

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