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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Natürlich haben wir gesagt, daß wir die Briefe bestellt haben, denn sonst hätte es Prügel gesetzt,und das ist unnütz, ganz unnütz, vollkommen unnütz. Und wir haben gesagt, daß alle Leute uns geantwortet haben: Nix! Da sind jetzt die Briefe! Woraus haben Sie nur erkannt, daß sie mir gehören? Ach, an der Schrift wohl?«
    Inzwischen hatte sie den Brief, der an den wohltätigen Herrn in der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas gerichtet war, entfaltet.
    »Ach, das ist der an den alten Kirchgänger. Na, da komm ich ja noch zurecht. Ich werd ihn noch bestellen. Vielleicht springt dabei ein Frühstück heraus.«
    Bei diesen Worten erinnerte sich Marius des Umstandes, dem er wohl den Besuch dieses Mädchens verdankte. Er griff in seine Tasche und fand darin fünf Franken und sechzehn Sous, alles, was er im Augenblick besaß. Nun, ich behalte mir etwas für ein Abendbrot, morgen wird man ja weitersehen, dachte er. Und er reichte dem jungen Mädchen die fünf Franken.
    »Holla«, rief sie, »volle fünf Franken! In so einer Bude – Sie sind ja wirklich ein guter Junge. Bravo! Das ist ja eine ganze Menge! Das gibt was zu trinken, und Fleisch und alles mögliche noch!«
    Sie zog das Hemd über die Schulter, verneigte sich tief vor Marius, winkte ihm dann vertraulich und wandte sich zur Tür.
    »Guten Tag, mein Herr«, sagte sie, »meinen Alten werde ich ja auch noch erreichen.«
    Dann ging sie.
Die Vorsehung läßt Marius einen Blick in ein fremdes Zimmer tun.
    Gewiß hatte Marius in den letzten fünf Jahren in Not und Entbehrung gelebt, aber jetzt begriff er, daß er das wahre Elend noch nicht kannte. Das wahre Elend hatte er jetzt zu sehen bekommen.
    Denn eines Mannes Elend kann nie vollständig sein, und wer ermessen will, was Elend ist, muß das furchtbare Elend einer Frau sehen, oder, noch furchtbarer, das des Kindes.
    Marius machte sich Vorwürfe, daß er so lange seiner Träumerei nachgehangen hatte, ohne sich um seine Nachbarn zu kümmern. Daß er damals ihre Miete bezahlte, war eine mechanische Regung gewesen, deren sich auch ein anderer nicht erwehrt hätte; er, Marius, hätte mehr tun müssen. Ach, nur eine Wand trennte ihn von diesenVerlassenen, die tastend in der Nacht des Elends lebten, täglich ging er an ihnen vorüber, streifte sie fast, war vielleicht der einzige Mensch, mit dem sie in Berührung kamen, der ihren Atem, ihr Röcheln hörte – und er hatte ihrer nicht geachtet. Täglich, stündlich hatte er durch diese Mauer gehört, wie sie auf und ab gingen, sprachen, berieten – und hatte nicht gelauscht. Vielleicht waren ihre Worte Seufzer gewesen, er hatte sie nicht gehört. Seine Gedanken weilten anderswo, in unerreichbaren Sphären, bei Traumgebilden; und während diese menschlichen Geschöpfe, seine Brüder in Christo, seine Brüder aus dem Volke, neben ihm im Todeskampf lagen, in einem sinnlosen Ringen um das Leben, hatte er geträumt! Er war mitschuldig an ihrem Elend, er hatte es noch schlimmer gemacht. Hätten sie einen anderen Nachbarn gehabt, einen, der aufmerksamer war und nicht in Phantasien schwelgte, einen gewöhnlichen Menschen mit einem gesunden Herzen im Leibe, gewiß wäre ihr Jammer bemerkt worden, längst hätte man sie aus der Gosse aufgelesen und gerettet! Gewiß waren sie erniedrigt, verdorben, gemein, scheußlich sogar, aber wie selten verfallen Menschen der Not, ohne sich zu beschmutzen? Es gibt einen Zustand, in dem Schmach und Unglück dasselbe sind, und dieses eine Wort ›Die Elenden‹ bedeutet ja schon beides. Wessen Schuld ist das? Und muß nicht, je tiefer der Fall, um so größer auch das Mitleid sein?
    Während Marius sich dies alles vorhielt und dabei, wie alle wahrhaft edlen Herzen, härter mit sich zu Gericht ging, als er verdiente, betrachtete er die Mauer, die ihn von den Jondrettes trennte, als ob sein Blick voll Mitleid durch diese Wand zu ihnen dringen und die Unglücklichen wärmen könnte. Es war eine dünne Wand aus Brettern und Balken, durch die man Geräusch und Stimmen aus dem Nachbarraum sehr wohl verstehen konnte. Man mußte ein Träumer wie Marius sein, um es nicht längst bemerkt zu haben. Fast unbewußt betrachtete Marius die Mauer. Plötzlich bemerkte er oben in der Wand, knapp unter der Decke, ein dreieckiges Loch, das zwischen drei Brettern freigeblieben war. Die dürftige Mörtelverkleidung war abgebröckelt, so daß Marius, wenn er auf seine Kommode stieg, bequem in das Zimmer der Jondrettes hinabblicken konnte.
    Das Mitleid hat zuweilen das

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