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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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sein Nachbar Jondrettein seiner Not ein Gewerbe daraus machte, die Mildtätigkeit wohlwollender Leute auszunützen. Offenbar verschaffte er sich Adressen und schrieb unter allen möglichen Namen an Leute, die er für reich und mitleidig hielt; seine Töchter mußten diese Briefe auf eigene Gefahr bestellen, denn der Vater begriff wohl, daß er damit seine Töchter aufs Spiel setzte; er hatte seine Partie mit dem Schicksal und wollte sie offenbar als Trümpfe benützen.
    Marius begriff auch, wenn er sich ihrer Flucht von gestern erinnerte, daß diese unglücklichen Geschöpfe irgendeinen dunklen Beruf ausübten und daß er es hier mit zwei Opfern der menschlichen Gesellschaftsordnung, zwei armen Geschöpfen zu tun hatte, die weder Kinder noch Mädchen, noch Frauen waren, sondern zugleich unreine Kreaturen und unschuldige Ausgeburten der Not. Namenlose ohne Alter und Geschlecht, unfähig zum Guten und zum Bösen, die bereits im Ausgang des Kindesalters weder Freiheit noch Tugend, noch Verantwortlichkeit besitzen. Gestern entfaltete Seelen, die heute schon welk sind und die Blumen gleichen, die man in den Straßenkot geworfen hat, und die da warten, bis das Wagenrad sie vollends zermalmt.
    Während Marius sie mit einem verwunderten und zugleich schmerzlichen Blick betrachtete, ging das junge Mädchen mit seltener Unverfrorenheit in dem Zimmer auf und ab. Daß sie halb nackt war, schien sie kaum zu stören. Zuweilen rutschte ihr das zerrissene und elende Hemd fast bis zum Gürtel herab. Sie schob Stühle beiseite, nahm Toilettegegenstände, die auf der Kommode lagen, in die Hand, betastete Marius’ Kleider und durchsuchte die Winkel.
    »Ach, Sie haben einen Spiegel!« rief sie.
    Und sie begann vor sich hin zu singen. Aber unter ihrer Unverfrorenheit schimmerte doch etwas wie Unruhe und Beschämung durch. Ihre Frechheit war ihre Art sich zu schämen.
    Marius ließ sie gewähren.
    Endlich trat sie an den Tisch.
    »Ach, Bücher!« sagte sie. »Ich kann auch lesen.« Und sie bückte sich über den aufgeschlagenen Band. »General Bauduin erhielt Befehl, mit den fünf Bataillonen seiner Brigade das Schloß Haugomont zu nehmen, das inmitten der Ebene von Waterloo … ach Waterloo«, unterbrach sie sich, »das kenne ich. Das war einmal eine Schlacht dort. Mein Vater war auch dabei. Der hat auch als Soldat gedient. Wir sind brave Bonapartisten, unter uns gesagt. Damalsging’s gegen die Engländer, in Waterloo.« Sie schlug das Buch zu und nahm eine Feder. »Schreiben kann ich auch. Wollen Sie sehen? Ich schreib hier etwas auf das Blatt, Sie sollen gleich sehen!«
    Bevor er antworten konnte, hatte sie auf das Blatt geschrieben:
    »Die Polente ist da.«
    Dann legte sie die Feder wieder hin.
    »Ganz ohne orthographische Fehler, das sehen Sie doch. Wir haben unsere Erziehung gehabt, meine Schwester und ich. Es war nicht immer so wie jetzt. Damals …«
    Sie stockte, richtete einen erloschenen Blick auf Marius und sagte schließlich auflachend:
    »Ach was! Ja, Sie gehen wohl auch manchmal ins Theater, Herr Marius? Ich auch. Ich habe einen kleinen Bruder, der steht mit den Schauspielern gut und schenkt mir manchmal Karten. Aber auf die Galerie geh ich nicht gern. Da sitzt es sich nicht gut. Oder man hat ganz dicke Leute neben sich, oder gar solche, die schlecht riechen. Sie sind übrigens recht hübsch, Herr Marius, wissen Sie das auch?«
    Beide dachten im Augenblick wohl dasselbe, sie lächelte, und er errötete.
    »Allerdings«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter, »Sie sehen mich ja nicht an, aber ich kenne Sie wohl, Herr Marius. Manchmal treffe ich Sie auf der Treppe, oder manchmal, wenn Sie ausgehen, zum Beispiel zu diesem Herrn Mabeuf. Da komme ich auch vorbei. Die Wuschelhaare stehen Ihnen recht gut, wahrhaftig.«
    Sie bemühte sich offenbar, ihre Stimme sanft klingen zu lassen, aber es gelang ihr nur, leise zu sprechen. Manche Worte gingen zwischen Kehlkopf und Lippen verloren, wie Töne auf einem Klavier, dem einige Tasten fehlen.
    Marius war zurückgetreten.
    »Fräulein«, sagte er kühl, »ich habe hier ein Paket, das, wie ich glaube, Ihnen gehört. Gestatten Sie, daß ich es Ihnen zurückgebe.«
    Und er reichte ihr den Karton mit den vier Briefen.
    Sie klatschte in die Hände und rief:
    »Und wir haben es überall gesucht! Und Sie haben es gefunden! Auf dem Boulevard, nicht wahr? Im Laufen haben wir es verloren. Meine Schwester, dieses dumme Geschöpf, hat es verloren. Zu Hause haben wir es dann gesucht.

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