Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Luxembourg-Garten gehen, dorthin, wo die Sonne am besten hintrifft, und die Quotidienne lesen. Ich war einmal mit einem Brief bei einem solchen Baron. Der war seine hundert Jahre alt. Sagen Sie, wo wohnen Sie jetzt?«
Marius antwortete nicht.
»Oh, Sie haben ein Loch im Hemd!« fuhr sie fort. »Ich muß es Ihnen wohl flicken.« Jetzt wurde ihr Gesicht traurig. »Sie scheinen sich gar nicht zu freuen, daß Sie mich wiedersehen.«
Marius schwieg. Auch sie brachte einen Augenblick lang kein Wort über die Lippen.
»Und doch, wenn ich wollte, könnte ich Sie zwingen sich zu freuen.«
»Wieso denn? Was meinen Sie damit?«
»Ach, früher sagten Sie du zu mir.«
»Nun, was meinst du damit?«
Sie biß sich auf die Lippen und schien zu zögern; vielleicht war sie die Beute eines erbitterten Kampfes in ihrem Innern. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein.
»Schade, aber was kann man tun? Sie sehen so traurig aus, ich möchte Sie lieber lustig sehen. Aber Sie müssen mir auch versprechen, daß Sie lachen werden. Ich will bestimmt wissen, daß Sie lachen und sagen: Bravo, das ist gut! Armer Herr Marius, erinnernSie sich noch, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten mir geben, was ich verlange …«
»Gut, sag schon, was du weißt.«
Sie sah auf das Weiße seiner Augen.
»Ich weiß die Adresse.«
Marius erblaßte. All sein Blut strömte zum Herzen.
»Welche Adresse?«
»Die Adresse, die Sie verlangt haben, die Adresse des Fräuleins.«
Jetzt seufzte sie tief auf.
Marius sprang auf und griff nach ihrer Hand.
»Oh«, rief er, »führ mich hin! Verlang, was du willst. Wo ist sie?«
»Kommen Sie mit mir. Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, und weiß die Nummer nicht, es ist recht weit von hier, aber das Haus kenne ich, und ich werde Sie hinführen.«
Sie zog ihre Hand zurück und sagte mit einem kläglichen Ton, der jeden anderen, minder begeisterten Beobachter zu Tränen gerührt hätte:
»Ach, wie Sie sich freuen!«
Marius’ Stirn bewölkte sich. Lebhaft ergriff er Eponines Arm.
»Du mußt mir schwören, daß …«
»Schwören? Was denn?«
»Schwören, Eponine, daß du diese Adresse nicht deinem Vater sagst.«
Verwundert blickte sie auf.
»Woher wissen Sie, daß ich Eponine heiße?«
»Versprich mir erst, was ich verlangt habe.«
Sie schien nicht mehr zu hören.
»Das ist lieb, daß Sie mich Eponine genannt haben.«
Marius nahm sie bei den Armen und schüttelte sie.
»So antworte doch um Himmels willen! Höre doch, was ich sage! Schwöre, daß du diese Adresse nicht deinem Vater sagst!«
»Meinem Vater? Ach, da seien Sie unbesorgt. Der sitzt in der Dunkelzelle. Übrigens, was kümmere ich mich um meinen Vater?«
»Das sind alles noch keine Versprechungen!«
»Aber lassen Sie mich doch los! Wie Sie mich schütteln! Doch, ich versprech es Ihnen ja! Ich schwöre es sogar, was liegt mir daran? Ich werde die Adresse meinem Vater nicht sagen. Ist es jetzt gut?«
»Und sonst auch niemand?«
»Auch sonst niemand.«
»Gut, dann führe mich!« rief Marius.
»Kommen Sie. Oh, wie er glücklich ist«, murmelte sie.
Nach einigen Schritten aber blieb sie stehen.
»Sie können nicht so nahe hinter mir herlaufen, Herr Marius. Folgen Sie mir, ohne daß man es merkt. Sie dürfen nicht mit einer wie ich gesehen werden.«
Wieder nach zehn Schritten blieb sie neuerlich stehen. Marius holte sie ein.
»Wissen Sie auch, daß Sie mir etwas versprochen haben?«
Marius griff in die Tasche. Er besaß auf der Welt nur diese fünf Franken, die er Vater Thénardier zugedacht hatte. Jetzt nahm er sie und drückte sie Eponine in die Hand.
Sie aber spreizte die Finger und ließ die Münze zu Boden fallen. Dann sagte sie mißmutig:
»Ich will Ihr Geld nicht.«
Zweites Buch
Das Haus in der Rue Plumet
Das geheimnisvolle Haus
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte ein Pariser Gerichtspräsident sich insgeheim eine Geliebte gehalten, insgeheim, weil jene Zeit es so wollte, daß die großen Herren ihre Mätressen zeigten, die Bürger aber die ihren versteckten. Darum hatte er im Faubourg Saint-Germain, in der verlassenen Rue de Blomet, die jetzt Rue Plumet heißt, ein kleines Haus erbauen lassen.
Es bestand aus einem einstöckigen Pavillon, der im Erdgeschoß zwei Zimmer, im ersten Stock zwei Kammern, unten eine Küche, oben ein Boudoir enthielt; vor dem Gebäude lag ein Garten, der gegen die Straße zu vergittert war und ungefähr einen Morgen maß. Mehr bekamen die Passanten der Straße
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