Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
zwei andere Wohnungen in Paris, um nicht, wenn er in einem Stadtviertel bliebe, die Aufmerksamkeit eines Beobachters zu erregen. Er erreichte dadurch, daß er in solchen Fällen wie jenen, da Javert ihn beinahe schon gefaßt hatte, unauffällig verschwinden konnte. Eine dieser Wohnungen lag in der Rue de l’Ouest, die andere in der Rue de l’Homme-Armé.
Jean Valjean als Nationalgardist
Hauptsächlich aber wohnte er in der Rue Plumet, und dort hatte er sein Leben folgendermaßen eingerichtet.
Cosette bewohnte mit der Dienerin den Pavillon. Sie hatte das große Schlafzimmer, ein Boudoir und den ehemaligen Salon des Gerichtspräsidenten. Auch der Garten stand zu ihrer Verfügung. Er selbst bewohnte den einfachen Bau auf der anderen Seite des Hofes, der eher einer Pförtnerloge glich; seine Matratze lag auf einem Gurtbett, er hatte einen Tisch aus weißem Holz, zwei Strohstühle, einen Wasserkrug aus Ton, einige Bücher auf einem Brett und seinen Koffer, von dem er sich nie trennte; geheizt wurde in diesem Raum niemals. Zu essen pflegte er bei Cosette, und er befahl, daß für ihn immer ein Stück Brot bereitlag. Zu Toussaint hatte er, als sie ihren Dienst antrat, gesagt:
»Das Fräulein ist die Herrin des Hauses.«
Cosette hatte im Kloster Haushaltungskunde gelernt und leitete die Wirtschaft, die im übrigen sehr bescheiden geführt wurde. Täglich führte Jean Valjean Cosette spazieren, in den Luxembourg-Garten; er bevorzugte die Allee, die am wenigsten aufgesucht wurde; sonntags führte er sie zur Messe, nach Saint-Jacques du Haut-Pas, weil diese Kirche sehr weit von ihrer Wohnung entfernt war. Die Gegend, in der Saint-Jacques liegt, ist sehr ärmlich, und so hatte er häufig Gelegenheit, Almosen zu verteilen. Wenn er zur Kirche kam, umdrängten ihn die Armen, und so war er zu dem Titel gekommen, den auch Thénardier ihm in seinem Schreiben zubilligte: der wohltätige Herr aus der Kirche Saint-Jacques du Haut-Pas.
Auch besuchte er mit Cosette Notleidende oder Kranke. Doch durfte kein Fremder das Haus in der Rue Plumet betreten. Toussaint hatte für Lebensmittel zu sorgen, und Jean Valjean selbst holte das Wasser von einem Brunnen auf dem Boulevard. Holz und Wein wurden in einem Halbkeller untergebracht, der an dem Tor zur Rue de Babylone lag und früher jenem Präsidenten als Grotte gedient hatte; darum war er auch noch mit Muscheln ausgelegt. Es gab einmal eine Zeit, wo die Mode für Verliebte Grotten vorschrieb.
An der Tür zur Rue de Babylone gab es auch einen Briefkasten für Briefe und Zeitungen; da aber die drei Bewohner des Pavillons in der Rue Plumet nichts dergleichen empfingen, diente er, der früher Billetdoux und Liebesbotschaften vermittelt hatte, jetzt nur mehr für Steuerzettel und Mitteilungen der Nationalgarde. Denn Herr Fauchelevent, Rentier, gehörte der Nationalgarde an. Der Zensus von 1831 war so streng gewesen, daß ihm nicht einmal die Bewohner eines Nonnenklosters entgehen konnten; überdies war ein Mann, der auf dem unzugänglichen und heiligen Terrain von Petit-Picpus geduldet war, in den Augen des Magistrats so achtenswert, daß man ihn auch des Dienstes auf der Stadtwache würdigte.
Drei- oder viermal jährlich zog Jean Valjean seine Uniform an und tat Dienst. Übrigens folgte er diesen Stellungsbefehlen gern, denn diese Verkleidung – die einzige gesetzmäßige – stellte ihn mit seiner Mitwelt auf gleichen Fuß und gestattete ihm doch, der Einzelgänger zu bleiben, der er war. Jean Valjean hatte bereits das Alter von sechzig Jahren erreicht und war nicht mehr dienstpflichtig,aber er sah nicht älter aus als fünfzig und hatte keine Lust, seinem Kompaniechef zu entlaufen. Er gehörte keinem Stande an, verleugnete seinen Namen, seine Identität, sein Alter – alles. Darum war er gerne Nationalgardist. Dem erstbesten zu gleichen, der brav seine Steuern zahlte, war sein höchster Ehrgeiz. Sein moralisches Ideal war der Engel, sein weltliches der Bürger.
Doch müssen wir einen Umstand erwähnen: wenn Jean Valjean mit Cosette ausging, kleidete er sich wie ein ehemaliger Offizier. Zeigte er sich aber allein auf der Straße, was meistens nur des Abends geschah, so trug er Arbeitertracht und eine Mütze, deren Schild das halbe Gesicht verdeckte. War das Vorsicht oder Bescheidenheit? Beides zugleich. Cosette hatte sich längst an die Absonderlichkeit ihres Schicksals gewöhnt und achtete der eigenartigen Gewohnheiten ihres Vaters nicht. Und was Toussaint betraf, so verehrte sie Jean
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