Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
nicht zu sehen. Hinter dem Pavillon aber lag ein schmaler Hof, und auf der anderen Seite des Hofes ein kleiner, niedriger Bau, der insgesamt zwei Räume enthielt, vielleicht ursprünglich dazu bestimmt, im Notfall ein Kind und eine Amme zu beherbergen. Dieser Bau stand durch eine Hintertür, die maskiert war, mit einem langen, schmalen Gang in Verbindung, der zwischen zwei hohen Mauern verlief. Er war mit großer Vorsicht versteckt zwischen den Gärten und Feldern, die angrenzten, und mündete gleicherweise in einer versteckten Tür, die, etwa eine Viertelmeile von dem Hauptgebäude entfernt, in einem anderen Stadtteil, an einer ruhigen Stelle der Rue de Babylone lag.
Im Oktober 1829 hatte ein alter Herr dieses Haus, wie es lag und stand, gemietet, zusammen mit dem Hintergebäude und dem Gang nach der Rue de Babylone. Er ließ die Geheimtüren an beiden Enden des Ganges erneuern, ließ auch an dem Haus, das noch von früher her einige Möbel aufwies, allerlei Ausbesserungen vornehmen. Dann zog er mit einem jungen Mädchen und einer bejahrten Dienerin in aller Stille ein. Nachbarn konnten sich darüber nicht unterhalten, weil es keine gab.
Dieser Mieter, der so wenig Aufsehen zu erregen wünschte, warJean Valjean, das junge Mädchen Cosette. Die alte Dienerin hieß Toussaint, und Jean Valjean hatte sie vor dem Spital und dem Elend bewahrt. Sie war alt, stammte aus der Provinz und stotterte. Diese drei Vorzüge hatten Jean Valjean veranlaßt, sich ihre Dienste zu sichern. Den Mietvertrag hatte er Fauchelevent, Rentner, unterzeichnet.
Warum hatte Jean Valjean das Kloster Petit-Picpus verlassen? Was war vorgefallen?
Nichts.
Der Leser erinnert sich vielleicht, daß Jean Valjean im Kloster glücklich war, so glücklich, daß er sich schließlich Gewissensbisse machte. Er sah Cosette täglich, fühlte, wie seine väterliche Liebe zu ihr sich immer mehr entfaltete, sagte sich, daß sie ihm ganz gehöre und daß niemand sie ihm mehr entreißen könne. Gewiß würde sie Nonne werden, und da das Kloster jetzt für sie wie für ihn die Welt bedeutete, würde er hier allmählich altern, während sie heranwuchs. Die Hoffnung, sich nie mehr von ihr zu trennen, entzückte ihn.
Und doch, wenn er darüber nachdachte, verfiel er in Unsicherheit. Er prüfte sein Gewissen, fragte sich, ob dieses Glück ihm auch zustehe, ob es sich nicht auf Kosten des Glücks eines andern, jenes Kindes nämlich, erst vollends entfalte; ob nicht er, der Greis, dieses Kind des Glücks beraube. Und war das nicht ein Diebstahl? Dieses Kind, begriff er, hatte ein Recht darauf, die Welt kennenzulernen, bevor es ihr entsagte; man durfte ihm nicht alle Freuden rauben unter dem Vorwand, daß man ihm alle Prüfungen ersparen wolle, durfte die Unwissenheit dieses Mädchens nicht mißbrauchen, um es glauben zu machen, es sei zum Klosterleben berufen; das hieße ein Geschöpf Gottes vergewaltigen und Gott betrüben.
Wer weiß, vielleicht würde Cosette eines Tages eine schlechte Nonne, und dann mußte sie ihn hassen! Dieser letzte Gedanke war fast egoistisch und weniger heroisch als die andern, für Valjean aber war er geradezu unerträglich.
Er beschloß, das Kloster zu verlassen.
Was Cosettes Erziehung betrifft, so war sie fast abgeschlossen.
Sobald Jean Valjean sich also zu einem Entschluß durchgerungen hatte, wartete er nur mehr auf eine Gelegenheit. Sie ergab sich, als der alte Fauchelevent starb.
Jetzt erbat Jean Valjean eine Audienz bei der Priorin und sagteihr, sein Bruder habe ihm ein kleines Erbe hinterlassen, das ihn immerhin instand setze, in Zukunft ohne Arbeit zu leben; darum scheide er aus dem Dienst des Klosters aus und nehme auch Cosette mit. Es sei aber billig, daß Cosette, wenn sie kein Gelübde ablege, auch nicht kostenlos erzogen werde, und darum bitte er die ehrwürdige Priorin demütig, sie möge im Namen der Klostergemeinschaft ein Geschenk von fünftausend Franken annehmen, das als Entschädigung für die fünf Jahre gelten mochte, die Cosette hier zugebracht. So verließ Jean Valjean das Kloster der Ewigen Anbetung.
Als er fortging, trug er einen kleinen Koffer, den er keinem Dienstmann anvertrauen wollte und dessen Schlüssel er immer bei sich trug. Cosette mußte darüber lachen und sagte schließlich sogar, sie sei auf den Koffer eifersüchtig.
Jean Valjean entdeckte das Haus in der Rue Plumet und ließ sich dort nieder. Jetzt war er ja im rechtmäßigen Besitz des Namens Ultime Fauchelevent.
Gleichzeitig mietete er noch
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