Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Hände nach zweihundertdreißig Gewehren (fast lauter Doppelläufern), vierundsechzig Säbeln und dreiundachtzig Pistolen. Damit möglichst viel Leute bewaffnet wären, nahm der eine ein Gewehr, der andere das Bajonett.
Am Quai de la Grève drangen bewaffnete junge Leute in Wohnungen ein, um von hier aus zu schießen. In improvisierten Werkstätten wurden Patronen fabriziert.
Auf beiden Flußufern, auf den Quais und den Boulevards, im Quartier Latin und bei den Markthallen strömten keuchend Arbeiter, Studenten und Mitglieder der Sektionen zusammen, verlasen Proklamationen und schrien Alarm. Man riß Laternenpfähle um, spannte Wagen aus, riß Pflastersteine aus der Erde, schlug Haustüren ein, entwurzelte Bäume, baute aus Fässern, Steinen, Möbeln und Brettern Barrikaden.
Man zwang die Bürger, zu helfen. Man drang in Wohnungen ein, nötigte die Frauen, Gewehre und Säbel ihrer abwesenden Männer auszuliefern, und schrieb mit Bleiweiß auf die Türen:
»Hier wurden alle Waffen requiriert.«
Manche unterzeichneten Quittungen über ausgelieferte Gewehre und Säbel und sagten:
»Holt euch die Waffen morgen vom Magistrat wieder ab.«
Schildwachen und Nationalgardisten, die man auf der Straße sah, wurden entwaffnet. Offizieren riß man die Epauletten ab.
Wir berichten alle diese Dinge langsam und der Reihe nach, doch geschahen sie gleichzeitig in allen Stadtteilen und unter ungeheurem Tumult.
Kaum war eine Stunde vergangen, als allein im Quartier der Markthallen siebenundzwanzig Barrikaden bereitstanden.
Überall und gleichzeitig wurde gearbeitet, überall wurden die Posten der Garnison aufgehoben. Um fünf Uhr abends waren die Revolutionäre Herren des Bastilleplatzes, der Lingerie und der Blancs-Manteaux. Ihre Patrouillen rückten bis zur Place des Victoires vor, bedrohten die Staatsbank und die Hauptpost. Ein Drittel von Paris war in Händen der Revolutionäre.
Gegen sechs Uhr abends war die Passage du Saumon ein Schlachtfeld. Auf der einen Seite stand die Menge, auf der anderen Militär. Durch die Gitter schoß man aufeinander. Ein Beobachter, ein junger Träumer, der Verfasser dieses Buches, der ausgegangen war, um sich den Vulkan aus der Nähe anzusehen, geriet zwischen die beiden Feuer. Um den Kugeln zu entgehen, mußte er zwischen zwei Säulen flüchten und dort in einer recht gefährlichen Lage eine halbe Stunde warten.
Bei manchen Regimentern waren die Soldaten schwankend. Dieser Umstand steigerte die allgemeine Unruhe. Die Soldaten erinnerten sich der Ovation, die ihnen im Juli 1830 wegen der Neutralität des dreiundfünfzigsten Linienregiments dargebracht worden war. Zwei furchtlose und erfahrene Offiziere führten das Kommando, der Marschall von Lobau und General Bugeau. Gewaltige Patrouillen, Bataillone von Linienregimentern, denen sich ganze Kompanien Nationalgardisten anschlossen, holten Erkundigungen in den revolutionären Stadtvierteln ein. Aber auch die Aufständischen stellten Posten aus und sandten kühn ihre Patrouillen aus den Barrikaden auf die Straße. So beobachteten sich die feindlichen Parteien. Die Regierung zögerte, obwohl sie eine Armee bereithielt. Die Nacht mußte jeden Augenblick hereinbrechen, und Saint-Merry läutete Sturm. Der Kriegsminister, der alte Marschall Soult, der bei Austerlitz gekämpft hatte, sah düster in die Zukunft. Die Tuilerien lagen einsam und verlassen da. Louis Philippe war unbeirrbar ruhig.
Achtes Buch
Ein Atom verbrüdert sich mit dem Orkan
Gavroche zieht in den Krieg
In dem Augenblick, als die Menge mit den Soldaten vor dem Arsenal zusammenstieß, sich teilte und in hundert Straßen auseinanderströmte, kam ein junger Bursche, der in Lumpen gekleidet war, die Rue Ménilmontant herabspaziert. Vor einem Trödlerladen blieb er stehen und bemerkte eine alte Pistole im Schaufenster. Er schrie der Trödlerin zu:
»Frau Dingsda, ich entleihe mir von Ihnen diese Kanone!«
Dann verschwand er mit der Pistole.
Zwei Minuten später begegnete ein Trupp verschüchterter Bürger, der durch die Rue Basse flüchtete, einem Burschen, der mutig seine Pistole schwang.
Das war Gavroche, der in den Krieg zog.
Übrigens hatte er keine Ahnung, daß er in jener verregneten Nacht seine eigenen Brüder in Schutz genommen hatte. Bei Tagesanbruch war er zu dem Elefanten zurückgekehrt, hatte die beiden Kinder aus ihrem Versteck herausgeholt, ihnen ein rasch improvisiertes Frühstück dargeboten und sie dann der Mutter anvertraut, die auch ihn aufgezogen und ernährt
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