Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
eng.«
»Mir vollkommen schnuppe«, erwiderte Grantaire, »ich habe nichts gegen die Regierung. Eine Krone, über die eine Schlafmütze gezogen ist, soll mir recht sein. Sie gleicht einem Gespenst mit einem Regenschirm.«
Auf der Treppe wurden rasche Schritte hörbar. Von der Straße rief man:
»Zu den Waffen!«
Laigle wandte sich um und sah in der Rue Saint-Denis Enjolras mit seinen Freunden. Gavroche folgte ihm mit seiner Pistole, Feuilly mit dem Säbel, Courfeyrac mit dem Degen, Prouvaire mit der Muskete.
Die Rue de la Chanvrerie, in der »Corinthe« lag, war kürzer als die Tragweite eines Karabiners, Bossuet legte die Hände an den Mund und schrie:
»Courfeyrac! Courfeyrac!«
Der blieb stehen, erkannte Laigle und rief:
»Was willst du?«
»Wohin?«
»Wir wollen eine Barrikade bauen!«
»Gut, bleibt hier, der Platz ist günstig.«
»Das ist wahr, Laigle«, antwortete Courfeyrac. Und die Menge besetzte die Rue de la Chanvrerie.
Wirklich eignete sich der Platz ausgezeichnet. »Corinthe« beherrschte das Winkelwerk der Sackgasse, die Rue Mondétour konnte nach beiden Seiten abgesperrt werden, so daß nur Angriffe von der Rue Saint-Denis her möglich waren. Der besoffene Bossuet hatte nicht weniger Witz bewiesen als ein nüchterner Hannibal.
Als die Menge die Straße besetzte, verbreitete sie überall Entsetzen. Bald war die Straße vollkommen von Spaziergängern gesäubert. Blitzschnell wurden allenthalben Fenster geschlossen, Türenversperrt, Läden zugeschlagen. Eine Alte, die Angst bekam, befestigte eine Matratze am Fenster, um die Kugeln aufzuhalten. Nur die Kaschemme blieb offen, und das aus dem einfachen Grunde, weil die Truppe sie besetzt hatte.
Frau Hucheloup, die Wirtin, jammerte.
In wenigen Minuten wurden zwanzig Eisenstangen, mit denen die Fenster der Gastwirtschaft vergittert waren, herausgebrochen; zehn Klafter weit wurde das Pflaster der Straße aufgerissen. Gavroche und Bahorel bemächtigten sich des Wagens eines Kalkbrenners, stürzten ihn um und rollten die Fässer herbei. Aus Pflastersteinen und leeren Fässern, die man im Keller des Wirtshauses fand, wurde die Barrikade erbaut. Matelotte und Gibelotte nahmen an den Arbeiten teil. Sie liefen hin und her, als ob sie Gäste bedienten.
Ein Omnibus, der mit zwei weißen Pferden bespannt war, bog in die Straße ein.
Bossuet sprang über die Barrikade, eilte dem Wagen entgegen und hielt ihn an. Er zwang die Passagiere, auszusteigen, half den Damen dabei, höflich wie er war, entließ den Kutscher und brachte Pferd und Wagen ein.
Im nächsten Augenblick waren die Pferde ausgespannt und wurden die Rue Mondétour hinuntergejagt. Der Omnibus war eine willkommene Vervollständigung der Barrikade.
Jetzt hatte es aufgehört zu regnen. Neue Rekruten waren gekommen. Arbeiter schleppten ein Pulverfaß herbei, einen Korb mit Vitriolflaschen und einige Karnevalfackeln, die von der letzten Feier des königlichen Geburtstags übriggeblieben waren. Die einzige Laterne, die zur Erleuchtung der Rue de la Chanvrerie diente, wurde umgerissen.
Enjolras, Combeferre und Courfeyrac leiteten das Ganze. Es wurden gleichzeitig zwei Barrikaden gebaut, die vor dem »Corinthe« nach beiden Seiten hin eine Sperre bildeten. Die höhere schloß die Rue de la Chanvrerie ab, die niedrigere die Rue Mondétour. Die letztere bestand nur aus Pflastersteinen und Fässern. Insgesamt arbeiteten etwa fünfzig Leute. Dreißig hatten Gewehre, denn halbenwegs war man in den Laden eines Waffenschmieds eingedrungen und hatte gegen Quittung gekauft.
Es war eine sonderbare Truppe. Einer trug einen kurzen Halbrock, einen Kavalleriesäbel und zwei alte Pistolen; ein anderer warin Hemdsärmeln, trug einen runden Hut und ein Pulverhorn an der Seite; ein dritter hatte sich aus grauem Papier ein Plastron gemacht und trug als Waffe eine Sattlerahle. Da war einer, der schrie:
»Wir wollen bis zum letzten Mann kämpfen und an der Spitze unserer eigenen Bajonette sterben!«
Und dieser Mann hatte gar kein Bajonett.
Ein anderer hatte seinen bürgerlichen Rock mit der Patronentasche und dem Ledergurt eines Nationalgardisten geschmückt und zeigte stolz die Aufschrift:
»Dienst der öffentlichen Ordnung.«
Viele Gewehre zeigten Legionsnummern. Man sah kaum Hüte, keine Halstücher, viele bloße Arme. Jedes Alter und jeder Typ war vertreten. Man sah blasse junge Leute, sonnenverbrannte Arbeiter. Alle waren hastig am Werk. Zwischendurch wurden allerlei Gerüchte verbreitet. Es hieß, gegen
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