Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Finsternis. Eisige Ruhe des Grabes schien aus der Erde aufgestiegen zu sein. Ein roter Schimmer hob die Silhouette der Dächer vom Hintergrunde ab. Das war der Widerschein der Fackeln, die auf der Barrikade des »Corinthe« brannten. Dahin lenkte Marius seine Schritte. Die Schildwache der Insurgenten in der Rue des Prêcheurs bemerkte ihn nicht. Er fühlte, daß er dem Ziele nahe war, und schlich auf den Fußspitzen weiter. Er erreichte die Rue Mondétour, die einzige Verbindung mit der Außenwelt, die Enjolras offengelassen hatte.
Jetzt konnte er hinter einer formlosen Wand schimmernde Windlichter und Männer sehen, die, das Gewehr auf den Knien, dasaßen. Das war die Innenseite der Barrikade. Nun hatte Marius nur mehr einen Schritt zu tun.
Aber der unglückliche junge Mann setzte sich auf einen Stein, kreuzte seine Arme und begann nachzudenken. Er dachte an seinen Vater, der ein so stolzer Soldat gewesen war und die Grenzen der Republik verteidigt, später unter dem Kaiser Genua, Alessandria, Mailand, Turin, Madrid, Wien, Dresden, Berlin und Moskau gesehen hatte. Auf all den Schlachtfeldern Europas hatte er Tropfen jenes Blutes verspritzt, das auch er, Marius, in seinen Adern fühlte.
Nun war auch für ihn der Tag herangekommen, da er unerschrocken, kühn und tapfer sein sollte, den Kugeln Widerstand leisten, seine Brust den Bajonetten darbieten, sein Blut vergießen, den Tod suchen mußte. Aber sein Schlachtfeld war die Straße, und der Krieg, den er führen würde, war der Bürgerkrieg.
Aber was bedeutete dieses Wort Bürgerkrieg? Gibt es einen Krieg gegen Fremde? Ist nicht jeder Krieg zwischen Menschen ein Bruderkrieg? Nur der Zweck rechtfertigt den Kampf, und darum gibt es diese Unterscheidung nicht: Krieg gegen den Feind, Krieg gegen den Mitbürger. Es gibt nur ungerechten Krieg und gerechten. Bis zu dem Tag, da der große Bund aller Menschen geschlossen ist, wird jeder Kampf für die Zukunft und gegen die Vergangenheit, die nicht weichen will, notwendig sein. Wer darf einen solchen Kampf tadeln? Schändlich ist nur der Krieg, in dem der Degen wider das Recht, den Fortschritt, die Wahrheit, die Zivilisation streitet. Ob Krieg nach innen oder außen, ein solcher Krieg ist immer verächtlich, immer ein Verbrechen.
Von Saint-Merry herüber schlug es zehn Uhr.
Enjolras und Combeferre saßen, den Karabiner in der Hand, bei der Lücke der großen Barrikade. Sie sprachen nicht, sie lauschten nur, ob nicht ein dumpfes Geräusch aus der Ferne den Anmarsch des Gegners verkünde.
Plötzlich hörten sie laute Schritte. Jemand kletterte wie ein Clown über den umgestürzten Omnibus – und atemlos sprang Gavroche herunter.
»Mein Gewehr«, schrie er, »sie kommen!«
Gleichzeitig tauchten auch die Schildwachen auf, die in der Rue de la Petite-Truanderie ausgestellt waren.
Allsogleich war jeder auf seinem Posten.
Dreiundvierzig Insurgenten, unter denen sich Enjolras, Combeferre, Courfeyrac, Bossuet, Joly, Bahorel und Gavroche befanden, knieten auf der großen Barrikade und hielten ihre Gewehre schußbereit. Sechs andere hatten sich unter dem Kommando Feuillys an den Fenstern des »Corinthe« postiert und hielten das Gewehr an der Wange.
So vergingen einige Augenblicke. Endlich verkündete das Geräusch vieler schwerer Schritte von Saint-Leu herüber, daß der Feind anmarschierte.
Es schwoll an, kam langsam und ohne Pause näher, gleichmäßigund furchtbar. Nichts anderes war zu hören. Es war, als ob eine Statue aus Stein näher stampfe. Plötzlich wurde es still. Es war, als ob man den Atem der Tausende hörte. Doch sah man immer noch nichts, konnte nur in der Dunkelheit ganz schwach das metallische Schimmern der Bajonette und Gewehrläufe im Widerschein der Fackeln erkennen.
Eine kurze Zeit verstrich. Beide Parteien schienen zu warten. Jetzt gellte aus der Finsternis, doppelt unheimlich, da man den Rufer nicht sah, eine Stimme auf:
»Wer da?«
Und zugleich hörte man, wie die Gewehre schußbereit gemacht wurden.
»Die französische Revolution!« rief Enjolras mit einer Stimme, die vor Stolz zitterte.
»Feuer!«
Ein Blitz erhellte die Fassaden der Straße für einen Moment. Gleich darauf ein furchtbarer Krach. Die rote Fahne fiel. Die Salve war so dicht gewesen, daß die Deichsel des Omnibusses, die als Fahnenstange diente, zersplitterte.
»Kameraden!« schrie Courfeyrac, »verschwendet nicht die Munition! Schießt erst, wenn sie vordringen!«
»Zuerst müssen wir die Fahne wieder aufrichten!« rief
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