Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Augenblick trat Enjolras ein.
»Sehen Sie den Großen da?« fragte Gavroche leise.
»Nun?«
»Das ist ein Spitzel.«
Enjolras trat zur Seite und sprach einige Worte mit einem Hafenarbeiter, der in der Ecke stand. Der ging hinaus und kam gleich darauf mit drei anderen zurück. Die vier Lastträger, breitschultrige Kerle, stellten sich hinter dem Tisch auf. Sie sahen aus, als ob sie sich sofort auf den Mann aus der Rue des Billets stürzen wollten.
Enjolras trat auf ihn zu.
»Wer sind Sie?«
Der Mann fuhr auf. Er bohrte seinen Blick in Enjolras’ klare Augen und schien seinen Gedanken erraten zu haben. Dann lächelte er verächtlich und entschlossen zugleich.
»Ich sehe schon, was los ist«, sagte er. »Nun gut, ja.«
»Sind Sie ein Spitzel?«
»Ich bin Polizeiagent.«
»Sie heißen?«
»Javert.«
Enjolras gab den vier Männern ein Zeichen.
Man band Javert die Arme auf den Rücken und fesselte ihn an den Pfeiler der Gaststube.
Gavroche hatte die Szene schweigsam und mit dem Kopfe nickend verfolgt. Jetzt trat er zu Javert und sagte:
»Die Maus hat die Katze gefangen.«
Javert bewahrte die unerschrockene Ruhe eines Mannes, der nie gelogen hat.
»Er ist ein Spitzel«, erklärte Enjolras Courfeyrac, Bossuet und Joly, die herbeigeeilt waren. Und zu Javert gewendet, fuhr er fort:
»Sie werden zehn Minuten vor der Erstürmung der Barrikade erschossen.«
»Warum nicht gleich?« fragte Javert stolz.
»Wir sparen Munition.«
»Dann erledigen Sie die Sache mit dem Messer.«
»Spitzel«, sagte Enjolras, »wir sind Richter und nicht Mörder!«
Zehntes Buch
Die Großtaten der Verzweiflung
Von der Rue Plumet ins Quartier Saint-Denis
Die Stimme, die Marius in der Dunkelheit zur Barrikade gerufen hatte, war ihm wie ein Befehl des Schicksals erschienen. Er wollte sterben – schon bot sich die Gelegenheit. Er klopfte an das Tor des Grabes, eine Hand aus dem Schattenreich warf ihm den Schlüssel zu.
Rasch lief er weg. Zufällig war er bewaffnet, denn er hatte Javerts Pistolen bei sich.
Marius bog aus der Rue Plumet in den Boulevard ein, überquerte die Esplanade und die Invalidenbrücke, die Champs Elysées und den Platz Ludwigs XV. So erreichte er die Rue de Rivoli. Die Läden waren geöffnet, in den Arkaden brannte Licht. Frauen erledigten ihre Einkäufe, Gäste löffelten Eis im Café Laiter und aßen kleine Kuchen in der Pâtisserie Anglaise. Vom Hôtel Meurice fuhren Postkutschen in vollem Galopp ab.
Marius ging durch die Passage Delorme in die Rue Saint-Honoré. Hier waren die Läden geschlossen, die Krämer standen vor den halboffenen Türen und debattierten; doch brannten die Straßenlaternen, und in den Fenstern war, wie gewöhnlich, Licht. Auf dem Platz des Palais-Royal stand Kavallerie.
Je weiter sich Marius vom Palais-Royal entfernte, um so weniger beleuchtete Fenster fand er. Hier waren alle Läden geschlossen, doch zeigten sich viele Menschen auf der Straße. Man sah niemand sprechen, aber ein dumpfes Stimmengewirr war zu vernehmen.
Am Eingang der Rue des Prouvaires staute sich die Menge. Man sah Gewehrpyramiden, Bajonette, biwakierende Soldaten. Hier hörte aller Verkehr auf. Hier herrschte die Armee.
Marius zwängte sich mit der Entschlossenheit eines Verzweifelten durch die Menge und drang vor. Man rief ihn an, aber er ging weiter. Quer durch das Nachtlager der Soldaten, auf einem Umweg, erreichte er endlich die Rue de Béthisy und näherte sich den Hallen. Hier gab es längst keine Laternen mehr. Er durchschritt jetzt gewissermaßen den Bannkreis der Truppen. Hier begegnete er weder Soldatennoch Zivilisten. Alles lag in tiefster Einsamkeit. Ihn schauerte vor Kälte. In eine Straße eindringen hieß in einen Keller hinabsteigen.
Jetzt kamen Laufende an ihm vorbei. Waren es Männer, Frauen? Bevor er etwas gesehen hatte, war alles vorüber.
Endlich gelangte er zu einem Gäßchen, das er für die Rue de la Poterie hielt. In der Mitte stieß er auf ein Hindernis. Er streckte die Arme aus.
Es war ein umgestürzter Karren. Eine von den Erbauern wieder verlassene Barrikade. Marius überstieg sie. Als er in die Rue du Contrat social gelangte, pfiff eine Gewehrkugel an seinem Kopf vorbei und blieb in einem kupfernen Barbierbecken stecken.
Dieser Schuß war das einzige Lebenszeichen, das er empfing. Von da an sah und hörte er nichts mehr.
Und doch ging Marius weiter in die Finsternis hinein.
Knapp vor dem Ziel
Marius erreichte die Markthallen. Hier herrschte Totenstille und vollkommene
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