Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
angerückt.
Offenbar bildeten sie die Spitze einer Kolonne. Welcher? Derer doch gewiß, die den Hauptangriff führen sollte. Und gewiß war es ihre Aufgabe, die Barrikade für den Sturm reifzumachen.
Der entscheidende Augenblick nahte.
Enjolras’ Befehl wurde so eilig ausgeführt, wie es nur auf Schiffen und Barrikaden, Kampfplätzen also, von denen es kein Entrinnen gibt, möglich ist. In kaum einer Minute waren zwei Drittel von den Pflastersteinen, die Enjolras an der Tür des »Corinthe« hatte aufhäufen lassen, in den ersten Stock hinaufgetragen worden. Geschickt postiert, bildeten sie bereits nach einer zweiten Minute Schutzwälle, die zur halben Höhe die Fenster und Luken der Mansarde sicherten.
Jetzt ließ Enjolras auch die Flaschen, die unter Mabeufs Tisch standen, in den ersten Stock bringen.
»Wer soll das trinken?« fragte Bossuet.
»Die dort«, erwiderte Enjolras und deutete auf die Feinde.
Dann verbarrikadierte man die Fenster des Erdgeschosses und hielt die Eisenstangen in Bereitschaft, mit denen während der Nacht die Tür des Wirtshauses gesichert wurde.
Jetzt war die Festung vollständig. Die Barrikade stellte den Wall, das Wirtshaus den Burgfried dar.
Mit den übriggebliebenen Pflastersteinen wurde die Lücke in der Barrikade versperrt.
Die Langsamkeit, mit der der Angriff geführt wurde, hatte Enjolras instand gesetzt, alle möglichen Vorkehrungen zu treffen. Er begriff, daß der Tod von Helden meisterhaft ins Werk gesetzt werden mußte.
»Wir sind die Führer«, sagte er zu Marius. »Ich gehe in das Haus und ordne alles drin, du bleibst heraußen und paßt auf.«
Marius stellte sich also auf die Barrikade und beobachtete den Feind. Enjolras ließ die Küchentür vernageln.
»Die Verwundeten sollen nicht unter dem Kampf zu leiden haben«, sagte er. Dann gab er kurz und ruhig seine letzten Befehle. Feuilly antwortete im Namen der andern.
»Haltet im ersten Stock Äxte bereit, um die Treppe einzuschlagen. Sind welche da?«
»Ja«, erwiderte Feuilly.
»Wie viele?«
»Zwei Äxte und eine Hacke.«
»Gut, wir sind jetzt sechsundzwanzig kampffähige Leute. Wieviel Gewehre haben wir noch?«
»Vierunddreißig.«
»Also acht zuviel. Ladet auch sie und haltet sie in Reichweite. Steckt Säbel und Pistolen in die Gürtel. Zwanzig Mann bleiben auf der Barrikade, sechs sollen die Mansarden und Fenster des ersten Stocks besetzt halten. Keiner darf hierbleiben, der nichts zu tun hat. Auf den ersten Trommelschlag eilen die zwanzig zur Barrikade. Wer zuerst ankommt, hat den besten Platz.«
Dann wandte er sich zu Javert.
»Ich vergesse dich nicht.«
Er legte seine Pistole auf den Tisch.
»Wer als letzter hier hinausgeht, schießt dem Spitzel eine Kugel in den Kopf.«
»Hier?« fragte einer.
»Nein, seine Leiche gehört nicht zu den unseren. Man soll ihn über die kleine Barrikade in die Rue Mondétour führen. Dort kann man dann das Urteil vollstrecken.«
Nur einer im Raum war ebenso gleichmütig wie Enjolras: Javert selbst.
In diesem Augenblick erschien Jean Valjean.
»Sie haben mir erst Ihr Lob ausgesprochen, Kommandant: denken Sie, daß ich einen Dank verdiene?«
»Gewiß. Verlangen Sie einen?«
»Ich möchte diesen Menschen niederschießen.«
Jetzt hob Javert den Kopf, sah Jean Valjean an und sagte:
»Natürlich!«
Enjolras lud inzwischen wieder seinen Karabiner.
»Hat keiner etwas einzuwenden?«
Und da niemand ein Wort sprach, sagte er zu Jean Valjean:
»Der Spitzel gehört Ihnen.«
Jean Valjean nahm sein Opfer sofort in Besitz, indem er sich selbst auf den Tisch setzte. Er zog seine Pistole heraus. Ein Knacken verriet, daß er bereits den Hahn spannte.
Im selben Augenblick klang von draußen Trompetenschall herein.
»Hierher!« schrie Marius von der Barrikade herüber.
Javert lachte sein lautloses Lachen und rief den Insurgenten nach:
»Euch geht’s auch nicht besser als mir.«
»Alle hinaus!« schrie Enjolras.
In wilder Hast stürzten die Revolutionäre auf die Barrikade.
»Auf Wiedersehen!« rief ihnen Javert nach.
Jean Valjean rächt sich
Als Jean Valjean mit Javert allein geblieben war, band er den Gefangenen vom Tisch los und bedeutete ihm, er solle aufstehen.
Javert gehorchte mit jenem unbestimmten Lächeln, in dem die gefesselte Macht ihre Gefühle zum Ausdruck bringt.
Jean Valjean führte ihn an seinem Halstuch, als ob er ein Tier am Zaum zöge, aus dem Zimmer hinaus. Javert, dessen Beine noch immer gebunden waren, konnte nur sehr kleine Schritte
Weitere Kostenlose Bücher