Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
hineingeschmissen?«
Noch immer schwieg Jean Valjean.
Thénardier rückte den Fetzen, der ihm als Halstuch diente, bis an den Adamsapfel vor, wodurch sein gewichtiges Aussehen noch gewann, und fuhr fort:
»Übrigens warst du ganz gescheit. Vielleicht. Morgen kommen die Arbeiter, säubern das Loch und finden unweigerlich den Burschen da. Schritt für Schritt kommt man dir auf die Spur, und schwupps bist du gefangen. Jemand ist durch die Kloaken gegangen. Wer? Wo ist er herausgekommen? Hat ihn jemand beobachtet? Die Polizeileute haben viel Witz. Zum Schluß wird die Kloake zum Verräter. Ein solcher Fund ist eine Seltenheit, der Aufsehen erregt, denn es ist unter uns nicht Mode, die Geschäfte hier abzumachen. Der Fluß wird allgemein vorgezogen. Er ist das richtige Massengrab. Nach einem Monat fischen sie einen wohl bei Saint-Cloud heraus, aber wer kümmert sich darum? Wer hat dieses Aas da getötet? Nun, Paris. Das ist keine Spur, der die Justiz nachläuft, Weiß Gott, du hast es ganz gut angefangen. Aber jetzt wollen wir zur Sache kommen. Teilen wir. Du hast den Schlüssel gesehen, zeige mir nun auch das Geld.«
Thénardier sah tückisch und bösartig aus, fast drohend, sprach aber noch immer freundschaftlich.
»Na, wieviel hatte der Kerl in den Taschen?«
Als Jean Valjean gestern abend die Nationalgardistenuniform angelegt hatte, war es ihm nicht in den Sinn gekommen, Geld einzustecken. So fand er nur in seiner Westentasche einige Münzen. Er entleerte sie jetzt vor Thénardiers Augen auf der Steinbank, es waren ein Louisdor, zwei Fünffranken und fünf oder sechs Sousstücke.
Thénardier schob die Unterlippe verächtlich vor.
»Wenig für einen Mord«, meinte er.
Dann begann er, ganz gemütlich Jean Valjeans und Marius’ Taschen durchzusuchen. Valjean ließ es geschehen. Während er den Rock Marius’ durchwühlte, riß er unauffällig einen Fetzen Stoff ab, den er aufbewahrte, um vielleicht später einmal an diesem Zeichen den Mörder oder Ermordeten wiederzufinden. Geld fand er allerdings nicht.
»Wahrhaftig«, sagte er, »mehr ist nicht da.«
Er vergaß, daß er halbpart vorgeschlagen hatte, und nahm das Ganze.
Erst als er die Sous in die Finger bekam, zögerte er. Endlich nahm er auch sie, wenn er auch murrte:
»Na, dem hast du den Tod zu billig geliefert. Schluß, Freund, duwillst raus. Hier ist es wie auf dem Markt. Du hast bezahlt, du kannst gehen.«
Und er begann zu lachen.
Die Tür öffnete sich lautlos. Offenbar war sie gut geölt und wurde öfter benützt, als es den Anschein hatte.
Thénardier öffnete die Tür halb, ließ Jean Valjean durch, schloß sie dann wieder und drehte den Schlüssel zweimal herum. Im nächsten Augenblick war er lautlos verschwunden.
Jean Valjean stand im Freien.
Marius wird von einem, der sich darauf versteht, für tot gehalten
Sekundenlang war Jean Valjean bezaubert von der erhabenen, köstlichen Freiheit rings um ihn. Es gibt Minuten der Selbstvergessenheit. Selbst das Leiden setzt aus, der Gedanke ruht, Friede zieht ein in die Seele des Sinnenden. So konnte auch Jean Valjean nicht umhin, in die Klarheit des Nachthimmels hinaufzublicken, der sich schweigend über ihm ausbreitete.
Plötzlich erwachte lebhaft in ihm das Gefühl einer Pflicht, die er auf sich genommen hatte. Er beugte sich über Marius, goß aus seiner hohlen Hand Wasser über sein Gesicht; aber die Lider des Verwundeten hoben sich nicht. Nur sein halbgeöffneter Mund atmete immer noch.
Eben wollte Jean Valjean zum zweitenmal die Hand in den Fluß tauchen, als er plötzlich ein Unbehagen empfand, wie man es wohl verspürt, wenn man – auch ohne es zu sehen – fühlt, daß jemand hinter uns steht.
Er wandte sich um.
Wirklich stand jemand da, ein hochgewachsener Mann in einem langen Überrock, der die Arme verschränkt hatte und in der Rechten einen Totschläger hielt. Er stand nur wenige Schritte hinter Jean Valjean, der sich über Marius beugte.
Jean Valjean erkannte Javert.
Der Polizeiinspektor hatte sich, nachdem er wider Erwarten von der Barrikade entlassen worden war, nach der Präfektur begeben, um persönlich dem Präfekten in einer kurzen Audienz Bericht zu erstatten. Dann hatte er sofort wieder seinen Dienst angetretenund sich darangemacht, das Gebiet des rechten Flußufers auf der Höhe der Champs-Elysées, das seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit der Polizei erregte, zu durchforschen. Er war Thénardier begegnet und nachgegangen.
Jean Valjean war aus dem Regen in die Traufe
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