Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
den Namen nicht absichtlich, aber die Unaufmerksamkeit gegen Eigennamen war eine seiner aristokratischen Neigungen.
»Herr Tranchelevent«, sagte er, »ich habe die Ehre, Sie für meinenEnkel, den Baron Marius Pontmercy, um die Hand von Mademoiselle zu bitten.«
Herr Tranchelevent verneigte sich.
»Abgemacht«, erklärte der Großvater. Dann wandte er sich zu Marius und Cosette:
»Ihr dürft euch anbeten.«
Sie ließen sich das nicht noch einmal sagen. Sofort begannen sie zu plaudern. Marius hatte sich auf seinen Ellbogen gestützt. Cosette stand.
»Mein Gott«, murmelte sie, »also sehe ich Sie wieder! Bist du es wirklich? Ja, Sie sind es. Sich auf eine solche Sache einlassen! Warum nur? Vier Monate lang war ich wie tot. Wie schlecht von Ihnen, an diesem Kampf teilzunehmen! Was habe ich Ihnen nur getan? Ich bin nicht böse, aber Sie dürfen das nicht mehr tun. Als man nach uns schickte, war ich so traurig! Und dann, in meiner Freude, hatte ich gar nicht Zeit, mich anzuziehen. Was sollen Ihre Verwandten nur von mir denken, daß ich mit einer ganz zerknitterten Halskrause hierhergelaufen komme! Aber sprechen Sie doch! Sie lassen mich ja ganz allein reden. Wir wohnen noch immer in der Rue de l’Homme Armé. Das mit Ihrer Schulter war ja schrecklich! Man hat mir erzählt, daß die Wunde groß genug war, um eine Faust hineinzustecken. Mit der Schere hat man das Fleisch herausgeschnitten. Die Augen habe ich mir ausgeweint. Ihr Großvater scheint sehr gut zu sein. Aber stützen Sie sich doch nicht so auf den Ellbogen, Sie werden sich anstrengen. Ich bin ganz dumm vor Freude. Ich wollte Ihnen eine Menge Dinge sagen, aber jetzt habe ich alles vergessen. Wir wohnen noch in der Rue de l’Homme Armé. Aber wir haben keinen Garten dort. Die ganze Zeit über habe ich Scharpie gezupft. Sehen Sie nur, meine Finger sind ganz zerschunden. Das ist Ihre Schuld.«
Die beiden fühlten sich durch die Anwesenheit der andern gestört. Sie schwiegen jetzt und begnügten sich, einander an der Hand zu halten. Gillenormand wandte sich um und rief laut:
»Sprecht doch laut, Leute, quatscht! Macht Lärm, zum Teufel!«
Tante Gillenormand betrachtete dieses Licht, das plötzlich in ihrem Hause aufgegangen war, betroffen. Sie war nicht kriegerisch gestimmt, ihre Blicke waren weder empört noch neidisch; die arme, siebenundfünfzigjährige Unschuld, dieses versäumte Leben, betrachtete erstaunt den Triumph der Liebe.
»Wie hübsch sie ist«, sagte Gillenormand. »Du hast Glück, Junge, daß ich nicht fünfzehn Jahre jünger bin, sonst könntest du ein Duell mit mir riskieren. Ich bin ganz und gar verliebt in Sie, Fräulein. Das ist nur recht so, das gebührt Ihnen. Werden wir aber eine hübsche Hochzeit bekommen! Wir gehören zur Pfarrei Saint-Denis du Saint-Sacrement, aber ich werde einen Dispens verlangen, damit ihr in Saint-Paul heiraten könnt. Saint-Paul ist hübscher. Wahrscheinlich, weil die Jesuiten es gebaut haben. Das Glanzstück jesuitischer Architektur ist allerdings in Namur, es heißt Saint-Loup. Wenn ihr verheiratet seid, müßt ihr hinfahren. Es lohnt die Reise. Ich bin durchaus auf Ihrer Seite, Fräulein, meiner Meinung nach sollen die Mädchen heiraten. Die heilige Katherine mag von mir aus zum Teufel gehen. Jungfrau bleiben mag schön sein, aber es ist ein kaltes Vergnügen. In der Liebe heißt es auch: mehret euch. Jeanne d’Arc kann das Volk retten, aber damit es erst ein Volk gibt, muß anders verfahren werden. Ich weiß wirklich nicht, wozu man Jungfrau bleiben sollte? Man bekommt zwar einen Ehrensitz in der Kirche, aber weiß Gott, ein hübscher junger Kerl und nach Jahresfrist ein blonder Junge – das ist mir lieber als eine Kerze halten und Turris Eburnea singen.«
Jetzt wandte er sich auf den Fersen um.
»Übrigens …«
»Was denn, Vater?«
»Hattest du nicht irgendeinen intimen Freund?«
»Ja, Courfeyrac.«
»Was ist denn aus ihm geworden?«
»Er ist tot.«
»Auch gut.«
Er setzte sich zwischen die beiden, hieß Cosette Platz zu nehmen und nahm ihre vier Hände in die seinen.
»Entzückend ist sie, die Kleine! Ein sehr kleines Mädchen und eine sehr große Dame. Schade, daß sie nur Baronin wird, es hätte für eine Marquise gereicht. Was sie für hübsche Wimpern hat! Die Liebe, Kinder, ist die Dummheit der Menschen und der Witz Gottes. Leider« – seine Miene verdüsterte sich –, »ach, wenn ich nur daran denke! Die Hälfte meines Vermögens besteht aus Leibrenten. Solang ich lebe … gut,
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