Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Der Kirchturm des Ortes, der ihre Heimat gewesen war, vergaß sie; ihr Acker vergaß sie; schließlich vergaß auch Jean Valjean sie, nachdem er einige Jahre im Bagno zugebracht hatte. In seinem Herzen war an Stelle der Wunde die Narbe getreten, das war es. Kaum ein einziges Mal hörte er von seiner Schwester. Das geschah, glaube ich, gegen Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Wie diese Nachricht zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Irgendwer, der sie in der Heimat gekannt hatte, war wohl der Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße nahe der Kirche Saint Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur mehr ein Kind bei sich, einen Jungen, wohl den jüngsten. Wo waren die sechs anderen? Vielleicht wußte sie es selbst nicht. Jeden Morgen ging sie in die Druckerei in der Rue du Sabot Numéro 3, wo sie als Falzerin arbeitete. Sie mußte um sechs Uhr morgens dort sein, also zur Winterszeit lange vor Tagesanbruch. Im Hause der Druckerei gab es auch eine Schule, dorthin brachte sie den kleinen Jungen, der sieben Jahre alt war. Da sie aber um sechs Uhr in der Druckerei sein mußte, während dieSchule erst um sieben geöffnet wurde, mußte das Kind eine Stunde im Hof warten; im Winter eine Nachtstunde im Freien. In die Druckerei ließ man das Kind nicht, weil es dort, wie man sagte, störte. Wenn die Arbeiter morgens in ihre Werkstätten kamen, sahen sie den armen Kleinen auf dem Pflaster hocken, schlaftrunken, oft sogar im Dunkel eingenickt, zusammengekauert und über seinen Korb gebeugt. Wenn es regnete, erbarmte sich die Frau des Hauswarts seiner und ließ ihn in ihre Loge eintreten, in der es ein schmales Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle gab; der Kleine schlummerte dort in einem Winkel und schmiegte sich an die Katze, um es wärmer zu haben. Um sieben öffnete die Schule ihre Tore, dann trat er ein. Das war alles, was man Jean Valjean sagen konnte.
Gegen Ende des vierten Jahres kam die Reihe an Jean Valjean, auszubrechen. Seine Kameraden halfen ihm, wie das an jenem traurigen Ort üblich ist. Er entkam. Zwei Tage lang irrte er frei umher – sofern man gehetzt zu werden, jeden Augenblick zurückzuschauen, beim leisesten Geräusch zu erschrecken, sich vor allem zu fürchten, einem rauchenden Schornstein, einem vorübergehenden Menschen, einem bellenden Hund, einem galoppierenden Pferd, einer Uhr, die schlägt … sofern man dies Freiheit nennen will. Am Abend des zweiten Tages wurde er wieder gefangen. Seit sechsunddreißig Stunden hatte er weder gegessen noch geschlafen. Das Seegericht verurteilte ihn wegen dieses Verbrechens zu einer Verlängerung seiner Strafe um drei Jahre, so daß er insgesamt acht Jahre zu verbüßen hatte.
Im sechsten Jahre war die Reihe wieder an ihm; aber es gelang ihm nicht einmal, aus dem Gefängnis zu kommen. Beim Appell hatte er gefehlt. Die Kanone gab den üblichen Signalschuß, und nachts fanden ihn die Leute der Runde unter dem Kiel eines im Bau befindlichen Schiffes; er leistete Widerstand, wurde aber überwältigt. Das war Flucht und Widersetzlichkeit. Den Bestimmungen des Strafgesetzes gemäß bekam er diesmal fünf Jahre, davon zwei in Doppelketten. Macht zusammen dreizehn Jahre. Als er im zehnten Jahre wieder an die Reihe kam, nahm er die Gelegenheit wahr, aber auch diesmal war ihm das Glück nicht hold. Drei Jahre für diesen neuerlichen Versuch. Insgesamt sechzehn Jahre. Schließlich, im dreizehnten Jahr, als er einen letzten Versuch wagte und nach vier Stunden wieder gefaßt wurde, weitere drei Jahre. Drei Jahre für vierStunden. Alles in allem neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er freigelassen. Gefangengesetzt worden war er im Jahre 1796, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.
Neue Qualen
Als die Stunde seiner Befreiung schlug, als dieses seltsame Wort: »Du bist frei« an sein Ohr drang, schien ihm der Augenblick unerhört und unwahrscheinlich, und ein Strahl lebendigen Lichts fiel in seine Seele.
Aber er sollte bald verblassen. Jean Valjean war von dem Gedanken der Freiheit berauscht gewesen. Nun beginne das neue Leben, hatte er gedacht. Aber nur zu bald erfuhr er, welche Freiheit das ist, der man einen gelben Paß gibt.
Bitterkeit. Er hatte berechnet, daß er während seiner Gefangenschaft im Bagno hunderteinundsiebzig Franken verdient haben müsse. Allerdings hatte er in dieser Rechnung die erzwungene Muße der Sonntage und Feiertage vergessen, die, auf neunzehn Jahre verrechnet, einen
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