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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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verblieben, wenn nicht die Uhr wieder geschlagen hätte. Ihm schien, sie riefe ihm ein Vorwärts zu.
    Er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und lauschte. Alles im Hause war still. Nun ging er aufrecht und in kurzen Schritten zum Fenster. Die Nacht war nicht sonderlich dunkel. Der Vollmond schien, nur zuweilen von Wolken verdunkelt, die der Wind über den Himmel peitschte. Immerhin entstand durch dieses Widerspiel von Licht und Schatten eine Art Dämmerung, die genügte, um sich zurechtzufinden.
    Das Fenster war nicht vergittert. Es führte in den Garten und war, wie das auf dem Lande Sitte ist, nur schwach verklinkt. Er öffnete es, aber da ihm ein kalter, scharfer Wind entgegenwehte, schloß er es sofort wieder. Aufmerksam sah er in den Garten hinaus. Eine weiße, ziemlich niedrige Mauer, die man leicht übersteigen konnte, umschloß ihn. Im Hintergrund waren jenseits der Mauern in regelmäßigen Abständen Baumkronen zu erkennen, woraus man entnehmen konnte, daß die Mauer den Garten von einer Allee oder mit Bäumen bepflanzten Straße trennte.
    Jetzt machte er eine entschlossene Bewegung, kehrte in den Alkoven zurück, nahm den Tornister vor, öffnete und durchsuchteihn, zog einen Gegenstand heraus, den er auf das Bett legte, steckte seine Schuhe in eine der Tornistertaschen, verschnallte alles wieder, lud den Sack auf die Schultern, setzte die Mütze auf, wobei er nicht vergaß, den Schirm tief über die Augen zu ziehen, suchte tastend nach seinem Stock und ergriff endlich den Gegenstand, den er eben erst auf das Bett gelegt hatte. Er glich einer kurzen, an einem Ende zugespitzten Eisenstange.
    In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen, wozu dieses Stück Eisen dienen mochte. War es ein Hebel, eine Keule? Im vollen Tageslicht hätte man erkannt, daß es ein Bergmannswerkzeug war. Man verwendete damals die Strafgefangenen auch dazu, in der Nähe von Toulon in den Steinbrüchen zu arbeiten, und so kam es, daß sie sich Bergmannswerkzeuge verschaffen konnten.
    Er nahm das Eisen in die Rechte, hielt den Atem an, näherte sich leisen Schrittes der Tür des Nachbarzimmers, in dem, wie der Leser sich erinnert, der Bischof schlief, und fand sie halb angelehnt. Der Bischof hatte sie nicht verschlossen.
Die Tat
    Jean Valjean lauschte. Nichts war zu hören.
    Er stieß die Türe an. Mit der Fingerspitze tat er es, ganz leise und mit einer flüchtigen, ängstlichen Vorsicht, wie eine Katze, die in ein Zimmer schleichen will.
    Die Tür gab nach und ließ geräuschlos einen Spalt frei.
    Jean wartete einen Augenblick, dann stieß er sie ein zweites Mal an, kühner jetzt. Wieder gab sie lautlos nach. Der Spalt war jetzt breit genug, daß man durchschlüpfen konnte. Aber neben der Tür stand ein kleiner Tisch, der den Zugang versperrte. Jean Valjean erkannte die Schwierigkeit. Die Öffnung mußte erweitert werden. Entschlossen stieß er ein drittes Mal zu, diesmal energischer als vorher. Eine schlecht geölte Angel kreischte auf. Es klang in der Dunkelheit wie ein rauher, langgezogener Schrei.
    Jean Valjean zitterte.
    Im ersten Augenblick, in dem der Schreck den Lärm phantastisch vergrößerte, bildete er sich fast ein, die Türangel sei ein lebendiges Wesen, nehme plötzlich ein furchtbares Dasein an, belle wie ein Hund, um alle Welt zu warnen und die Schlafenden zu wecken.
    Verwirrt blieb er stehen und fiel auf die Fersen zurück. Er hörte das Blut in seinen Schläfen hämmern, hörte den Atem wie einen Orkan aus der Brust hervorbrechen. Ihm schien es unmöglich, daß das furchtbare Kreischen der Türangel nicht das ganze Haus erschüttert habe wie ein Erdbeben; die Türe hatte Alarm geschlagen, der Alte würde aufstehen, die beiden Frauen mußten ein Geschrei erheben, Fremde würden zu Hilfe kommen, in einer knappen Viertelstunde war die ganze Stadt in Aufruhr und die Gendarmerie auf den Beinen.
    Einen Augenblick lang glaubte er sich verloren.
    Wie versteinert, wie zu einer Bildsäule erstarrt, blieb er reglos stehen. Einige Minuten verstrichen. Die Tür war jetzt weit offen. Er wagte, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich gerührt. Er lauschte. Alles still, niemand war durch das Knarren der verrosteten Angel erwacht.
    Die schlimmste Gefahr war vorbei, aber noch immer war er sehr erregt. Doch ging er nicht zurück. Auch als er alles verloren geglaubt hatte, war er nicht zurückgewichen. Er wollte nur rasch zu Ende kommen. Er tat einen Schritt vorwärts und war in dem Zimmer.
    Es lag in tiefer Ruhe.

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