Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Verlust von vierundzwanzig Franken ergaben. Wie dem aber auch sei, durch verschiedene Abzüge blieben zu guter Letzt nur hundertneun Franken und fünfzehn Sous übrig, die ihm bei seiner Entlassung ausbezahlt wurden. Er begriff das nicht, er glaubte sich geschädigt oder, wenn wir das Wort nicht scheuen wollen, bestohlen.
Am Tag nach seiner Entlassung sah er in Grasse vor dem Tor einer Destillation Männer, die Warenballen verluden. Er bot seine Dienste an. Da die Arbeit eilig war, nahm man sie an. Er machte sich ans Werk. Er war gescheit, kräftig und geschickt. Er tat sein Bestes, und sein Dienstgeber schien zufrieden. Während er arbeitete, kam ein Gendarm vorüber, bemerkte ihn und verlangte nach seinen Papieren. Er mußte den gelben Paß zeigen. Dann machte sich Jean Valjean wieder an die Arbeit. Kurz vorher hatte er einen Arbeiter gefragt, was sie mit solcher Arbeit wohl im Tage verdienten, und man hatte ihm gesagt: dreißig Sous. Als der Abend kam, ging er zu dem Herrn der Destillation und bat um seinen Lohn, da er am nächsten Morgen weiterwandern müßte. Der Herr sprach kein Wort, sondern händigte ihm fünfzehn Sous aus. Jean erhob Einspruch. Da wurde ihm gesagt: »Für dich ist das genug.« Er bestandauf seinem Recht, aber da sah ihn der Meister scharf an und sagte: »Vorsicht, daß du nicht wieder ins Loch kommst!«
Auch hier hatte man ihn offenbar bestohlen.
Die Gesellschaft, der Staat hatte ihn im großen geplündert, jetzt kamen die Feinde einzeln und bestahlen ihn. Entlassung ist nicht Befreiung. Man verläßt das Strafhaus, aber die Verurteilung kann man nicht loswerden.
So war es ihm in Grasse ergangen. Der Leser hat gesehen, wie er in Digne aufgenommen wurde.
Erwachen
Als die Kirchturmuhr die zweite Stunde anzeigte, erwachte Jean Valjean. Was ihn aus dem Schlaf aufjagte, war das gute Bett. Zwanzig Jahre hatte er nicht in einem Bett gelegen, und obwohl er sich nicht entkleidet hatte, war die Empfindung jetzt doch allzu neu, um nicht seinen Schlaf zu stören.
Mehr als vier Stunden hatte er geschlafen. Die Müdigkeit war von ihm gewichen. Er war nicht gewohnt, lange zu schlafen.
Er schlug die Augen auf, blickte im Dunkel um sich, dann schloß er sie wieder, um von neuem einzuschlafen. Aber er konnte es nicht, und so begann er nachzudenken. Er befand sich in einer wirren Geistesverfassung. In seinem Gehirn war ein dunkles Hin und Her, alte Erinnerungen vermischten sich mit neuen, wuchsen jäh an und verschwanden wieder. Viele Gedanken kamen ihm, aber einer schob sich hartnäckig in den Vordergrund und verdrängte die andern. Wir wollen es unumwunden sagen, es war der Gedanke an die sechs Silbergedecke und den großen, silbernen Schöpflöffel, die Frau Magloire auf den Tisch gelegt hatte.
Das Silberzeug ließ ihm keine Ruhe. Es war da, nur einige Schritte entfernt. Als er das Zimmer nebenan durchschritten hatte, um hierher zu gelangen, wo er sich jetzt befand, hatte die alte Haushälterin es in den Wandschrank am Kopfende des Bettes gelegt. Jean hatte es wohl bemerkt. Es war, wenn man aus dem Speisesaal eintrat, rechter Hand. Massives Silber. Altes, gutes Silber. Mit dem schweren Schöpflöffel würde es gewiß zweihundert Franken erbringen. Das Doppelte der Summe, die er in neunzehn Jahren verdient hatte. Allerdings, er hätte ja mehr verdient, wenn ihndie Verwaltung nicht bestohlen hätte … Eine gute Stunde lang beschäftigte sich sein Geist mit diesen Dingen und kämpfte einen mühsamen Kampf. Es schlug drei. Wieder öffnete er die Augen, setzte sich auf, streckte den Arm aus, tastete nach seinem Tornister, den er in eine Ecke gelegt hatte, ließ die Beine herabhängen und blieb regungslos auf dem Bettrand sitzen. So verharrte er einige Zeit in tiefe Gedanken versunken; wenn ihn jemand so, einsam wachend, in diesem schlafenden Hause gesehen hätte, wäre er ein unheimliches Gefühl nicht losgeworden. Plötzlich bückte sich Jean, zog die Schuhe ab, stellte sie vorsichtig auf die Strohmatte neben dem Bett, nahm wieder seine nachdenkliche Haltung ein und versank in Reglosigkeit.
Ohne Unterlaß kehrten die gleichen Gedanken in sein Gehirn zurück; gleichzeitig mußte er, ohne recht zu begreifen warum, an einen Zwangsarbeiter namens Brevet denken, den er im Bagno gekannt hatte und dessen Hose nur durch ein einziges Tragband hochgehalten wurde; das Muster dieses Tragbands kam ihm immer wieder in den Sinn.
In dieser Stellung verharrte er, und vielleicht wäre er bis zu Tagesanbruch so
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