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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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Hand.
    »Cosette ist hübsch, es geht ihr gut, Sie werden sie bald sehen. Aber jetzt sind Sie ruhig. Sie sprechen zu lebhaft, und Sie strecken die Arme aus dem Bett. Sie werden wieder husten müssen.«
    In der Tat unterbrachen Hustenanfälle Fantine fast bei jedem Wort.
    Fantine murrte nicht, denn sie fürchtete, durch ihre allzu leidenschaftlichen Worte das Vertrauen in ihre Selbstbeherrschung erschüttert zu haben. Darum begann sie von gleichgültigen Dingen zu sprechen.
    »Ein recht hübscher Ort, Montfermeil, nicht wahr? Im Sommer macht man sogar Landpartien dahin. Machen diese Thénardiers denn anständige Geschäfte? Viel Leute kommen dort nicht hin. Es ist ja auch eine recht schlechte Budike, ihre Wirtschaft.«
    Madeleine hielt noch immer ihre Hand. Offenbar war er zu ihr gekommen, um ihr Dinge zu sagen, vor denen er jetzt zurückschreckte. Der Arzt hatte seine Visite beendigt und sich zurückgezogen. Nur Schwester Simplice war noch zugegen.
    Plötzlich, inmitten des Schweigens, schrie Fantine auf:
    »Ich höre sie! Mein Gott, ich höre sie!«
    Unten im Hof spielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau oder irgendeiner Arbeiterin. Die Kleine lief hin und her, lachte und sang.
    »Oh, es ist Cosette! Ich erkenne ihre Stimme.«
    Das Kind lief wieder weg, wie es gekommen war, die Stimme verhallte. Fantine lauschte noch eine Zeitlang, dann wurde ihr Gesicht düster, und Madeleine hörte sie flüstern:
    »Wie schlecht von dem Arzt, daß er mein Kind nicht zu mir läßt! Er ist nicht gut, dieser Mensch.«
    Indessen wurde sie bald wieder heiter. Sie preßte den Kopf an das Kissen und begann mit sich selbst zu sprechen.
    »Ganz glücklich werden wir sein. Und sogar einen kleinen Gartenwerden wir haben. Herr Madeleine hat es mir versprochen. Meine Kleine kann dann im Garten spielen.«
    Sie lachte.
    Madeleine hatte Fantines Hand losgelassen, er lauschte ihren Worten, wie man dem Winde lauscht, die Augen zu Boden gerichtet, in abgründige Gedanken versunken. Plötzlich hörte sie auf zu sprechen. Er blickte auf. Fantine schien entsetzt zu sein. Sie sagte nichts, sie atmete kaum mehr; sie hatte sich halb aufgerichtet, ihre magere Schulter hatte das Hemd zurückgeschoben; ihr Gesicht, eben noch strahlend, war totenfahl, und ihr starrer Blick schien auf irgend etwas Furchtbares gerichtet.
    »Mein Gott«, rief er, »was haben Sie, Fantine?«
    Sie antwortete nicht, ließ den Gegenstand nicht aus den Augen, den sie zu sehen schien, und berührte nur mit der Hand seinen Arm, während sie mit der andern in den Hintergrund deutete. Er wandte sich um und sah Javert.
Die Obrigkeit tritt in ihre Rechte
    Fantine hatte Javert seit dem Tage, da der Bürgermeister sie aus den Händen jenes Mannes gerissen hatte, nicht mehr gesehen. Ihr krankes Gehirn konnte sich keine Rechenschaft ablegen, aber sie ahnte, daß er sie holen komme. Sie konnte dieses schreckliche Antlitz nicht ertragen, sie verbarg ihr Gesicht in beiden Händen und schrie angstvoll:
    »Herr Madeleine, retten Sie mich!«
    Jean Valjean – wir wollen ihn nunmehr so nennen – war aufgestanden. Sanft und ruhig sagte er zu Fantine:
    »Seien Sie ruhig, Kind. Er kommt nicht um Ihretwillen.«
    Dann wandte er sich zu Javert und sagte:
    »Ich weiß, was Sie wollen.«
    »Los, rasch!« befahl Javert. Etwas Wildes, Frenetisches war in dem Ton seiner Worte. Er tat nicht, wie gewöhnlich, äußerte sich nicht, wies keinen Haftbefehl vor. Für ihn war Jean Valjean ein geheimnisvoller, unfaßbarer Feind, ein Kämpfer im Dunkel, mit dem er seit fünf Jahren gerungen hatte, ohne ihn bezwingen zu können.
    Diese Verhaftung war nicht ein Anfang, sondern ein Schluß. Darum beschränkte er sich darauf, zu sagen:
    »Los, rasch!«
    Dabei trat er nicht vor; er warf Jean Valjean nur diesen faszinierenden, tierischen Blick zu, mit dem er seine Opfer an sich zu ziehen pflegte. Es war der Blick, den Fantine eben erst bis in ihr Mark dringen gefühlt hatte.
    Auf Javerts Ruf hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. Aber der Herr Bürgermeister war doch da. Was hatte sie zu befürchten?
    Javert trat in die Mitte des Zimmers und rief:
    »Nun, kommst du bald?«
    Die Unglückliche blickte um sich. Es waren nur die Nonne und der Herr Bürgermeister im Zimmer. Wem konnte das rohe »du« gelten? Nur ihr. Sie schauerte. Und jetzt sah sie etwas Unerhörtes, etwas so Unerhörtes, daß ihr selbst in ihren schwärzesten Fieberträumen nichts Ähnliches erschienen war. Sie sah, wie der Spitzel Javert den Herrn

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