Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
in seine Hände und legte ihn sorgsam, wie eine Mutter ihr Kind, zurecht; er schob ihre Haare unter der Haube zurecht und knüpfte das Band ihres Hemdes zu. Dann schloß er ihre Augen,
Fantines Antlitz schien in diesem Augenblick von einem seltsamen Licht überstrahlt. Der Tod ist der Eintritt in das große Reich des Glanzes. Ihre Hand hing aus dem Bett. Jean Valjean kniete nieder und drückte einen Kuß auf sie. Dann wandte er sich um und sagte zu Javert:
»Jetzt stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«
Ein anständiges Grab
Javert lieferte Jean Valjean ins Stadtgefängnis ein.
Die Verhaftung des Herrn Madeleine war für Montreuil sur Mer eine Sensation, ein außerordentliches Ereignis. Wir müssen leider bekennen, daß das einzige Wort »Galeerensträfling« genügte, umalle Welt ihm abspenstig zu machen. In kaum zwei Stunden war alles Gute vergessen, was er getan hatte, und er war eben nur ein Zuchthäusler. Um der Gerechtigkeit willen müssen wir feststellen, daß noch niemand wußte, was sich in Arras abgespielt hatte.
Einen ganzen Tag lang wurden Gespräche wie etwa die folgenden geführt.
Wissen Sie schon, ein entlassener Sträfling! Wer? Der Bürgermeister. Herr Madeleine? Allerdings. Nicht möglich? Er hieß gar nicht Madeleine, er hat irgendeinen gemeinen Namen, Béjean, Bojean, Boujean oder so ähnlich. Großer Gott! Nun, er ist verhaftet. Verhaftet?! Im Stadtgefängnis. Man wird ihn bald abholen. Wohin denn? Er kommt wegen Straßenraubs vor die Assisen. Nun, das dachte ich mir immer. Dieser Mensch war zu gut, zu vollkommen, zu tadellos. Das Kreuz lehnt er ab, verteilt überall Almosen. Ich dachte mir’s doch immer, daß da etwas dahintersteckt!
Zumal in den Salons wurde so gesprochen. Eine alte Dame, eine Abonnentin des »Drapeau blanc«, äußerte folgende Bemerkung, deren ganze Tiefe nicht abzuschätzen ist:
»Das ist mir ganz lieb. Es mag für diese Bonapartisten eine Lehre sein!«
So verschwand das Phantom, das sich Madeleine genannt hatte, aus Montreuil sur Mer. Nur drei oder vier Leute in der ganzen Stadt bewahrten ihm ein treues Andenken. Zu diesen zählte die alte Portiersfrau, die ihm gedient hatte.
Am Abend desselben Tages saß diese wackere Alte in ihrer Loge, noch ganz bestürzt und traurigen Gedanken nachhängend. Die Fabrik war den ganzen Tag über geschlossen gewesen, das Haupttor verriegelt, die Straße leer. Im Hause waren nur noch die beiden Nonnen, Perpetua und Simplicia, die bei der toten Fantine wachten.
Zur Stunde, da Herr Madeleine nach Hause zu kommen pflegte, stand die brave Portiersfrau mechanisch auf, nahm den Schlüssel zu seinem Zimmer aus einer Lade und stellte den Leuchter bereit, als ob sie ihn erwarte. Dann setzte sie sich wieder und versank in Nachdenken. Sie hatte alles das ganz unbewußt getan.
Erst zwei Stunden später erwachte sie aus ihrem Sinnen. Mein Gott, dachte sie, wie kommt es nur, daß ich den Schlüssel bereitgelegt habe?
In diesem Augenblick wurde das Glasfenster aufgedrückt, eineHand griff herein, nahm den Schlüssel und den Leuchter und entzündete die Kerze an dem Licht in der Loge.
Die Portiersfrau unterdrückte einen Schrei.
Sie kannte diese Hand, diesen Arm, diesen Rockärmel. Es war Madeleine. Sekunden vergingen, bevor sie sprechen konnte, denn sie war, wie sie später selbst erzählte, ganz außer sich.
»Mein Gott, Herr Bürgermeister«, sagte sie endlich, »ich dachte …«
Sie hielt inne, denn das Ende des Satzes, der so respektvoll begonnen wurde, wäre peinlich gewesen. Jean Valjean war für sie noch immer der Bürgermeister.
Er beendete ihren Gedanken.
»Sie dachten, ich wäre im Gefängnis. Ich war es. Ich habe das Fenstergitter ausgebrochen und bin vom Dach herabgesprungen. So, jetzt bin ich da. Ich gehe in mein Zimmer. Holen Sie mir Schwester Simplice, sie ist gewiß noch bei der Leiche dieser armen Frau.«
Eilig gehorchte die Alte.
Er gab ihr keine weitere Anweisung. Er wußte gewiß, daß sie besser auf ihn achten würde als er selbst.
Er stieg inzwischen die Treppe hinauf, die in sein Zimmer führte. Oben angelangt, ließ er seinen Leuchter auf der höchsten Stufe stehen, öffnete geräuschlos die Tür und trat ein. Tastend schloß er die Fensterläden, dann holte er seinen Leuchter. Diese Vorsicht war nötig, denn sein Fenster war von der Straße aus zu sehen.
Es wurde an die Tür geklopft.
»Herein!« rief er.
Es war Schwester Simplice. Sie war bleich, hatte gerötete Augen, und die Kerze in ihrer Hand zitterte.
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