Lesebuch für Katzenfreunde
habe sie Gideons Nähe nicht bemerkt. Zu ihren Füßen vor der fliesenbelegten Feuerstelle schlief endlich das unselige Geschöpf.
»Komm schlafen«, sagte Gideon und nahm ihren Arm.
Sie leistete keinen Widerstand. Mit einer sittsamen Handbewegung zog sie ihren zerrissenen, blutigen Morgenrock über ihrem Busen zusammen und wandte sich ihrem Mann zu, als wolle sie ihr Gesicht an seiner Schulter vergraben.
»Du mußt sehr müde sein«, sagte er. » Du mußt sehr müde sein«, sagte sie sanft.
Und am nächsten Morgen, als Edna in die Küche kam, warf sie einen Blick auf das Tier vor dem Feuer – warf einen einzigen Blick darauf und schrie laut und rannte zu ihrer Herrin. Denn vor dem Feuer schlief nicht der verhungerte, verächtliche, rattenähnliche Wicht vom Abend vorher, sondern eine außerordentlich schöne Katze: eine riesengroße, langhaarige Katze mit einem kupferroten, aufgeplusterten und seidigen Fell, einem eleganten, straußenfederartigen Schwanz und steifen, langen silbrigen Schnurrhaaren, die vor Leben förmlich sprühten. »Mahalaleel!« sagte Leah, ihm sofort einen Namen gebend, den sie noch nie gehört hatte – aber irgendwie war er genau richtig, doch, er war genau richtig –, als hätte ihn ein Kobold ihr ins Ohr geflüstert. (Später wurde ihr gesagt, daß Mahalaleel ein Name aus der Bibel sei, und sie überlegte ein bißchen, ob der Name geeignet sei: Denn Leah gehörte zu jenen Bellefleurs, die sich stolz brüsteten, die Bibel zu verachten.) »Mahalaleel«, flüsterte sie, »du bist die reinste Schönheit… «
Der Kater reckte sich wollüstig und öffnete die Augen – ein durchsichtiges, eisglitzerndes Oval, in dem ein schwarzer Schlitz träge zu schwimmen schien –, und gluckste zustimmend und als habe er sie anerkannt. Sicher hatte er sie anerkannt.
»Mahalaleel?«
Leah kniete vor ihm, in Staunen versunken. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie seinen Kopf streicheln, aber er versteifte sich – seine wunderschönen Ohren zuckten um einen winzigen Hauch zurück –, und sie zögerte. »Nun bist du also doch eine ganz große Schönheit!« flüsterte sie schadenfroh. »Warte nur, bis die anderen dich sehen!«
Sie befahl Edna, Milch für ihn zu wärmen – nein, nicht Milch: Sahne! Mahalaleel mußte Sahne haben! Sie fütterte ihn selbst aus einem angestoßenen Sèvres-Napf. Schließlich gestattete er ihr, ihn zu berühren, scheu zuerst, und dann etwas zutraulicher. (Oh, wenn das riesige Tier sie plötzlich angriffe, wie sie einmal, als sie noch ein ruppiges kleines Mädchen war, von einem alten, halbblinden Jagdhund angegriffen wurde! – Wenn er plötzlich wütend würde und sie mit diesen Krallen kratzen und mit den Fangzähnen ihr bloßes Fleisch aufreißen würde! Aber das war ein Risiko, dem sie sich begierig aussetzte – ihr Blut pochte dabei in seltsam verzückter Wonne.) Sie streichelte das dicke, seidige Fell auf seinem Rücken und kraulte ihn sogar hinter den Ohren und kitzelte ihn am Kinn und zog ein paar stachlige Kletten aus seinem Pelz und war glücklich über das unvermutete Schnurren, das er glucksend und rauh tief innen in seiner Kehle machte. Was für eine Schönheit! Was für ein wunderbares Geschöpf! Wenn die übrige Familie ihn zu sehen bekäme, würden sie alle staunen! Mit der Sahne war er fertig, und Leah stand auf, um etwas anderes für ihn zu suchen – kaltes Roastbeef, ein kaltes Hühnerbein –, er verzehrte es mit wählerischem Eifer, dem zuzuschauen ein Vergnügen war. Sein riesiger Federschweif, in dem sich Haare von tausenderlei Farben mischten – bronzebraun, safrangelb, taubengrau, schwarz, weiß und silbrig – stieg langsam in die Höhe, bis er aufgerichtet war und vor Lust buchstäblich zitterte.
Leah kauerte in der Nähe, hatte sich den Saum ihres Morgenrocks um die Knöchel gestopft, umarmte ihre Knie und ließ den Kater nicht aus den Augen. Mahalaleel mußte an die dreißig Pfund wiegen, schätzte sie. Und er war nicht eine Art Wildkatze oder ein Luchs, war kein Mischling, sondern reinrassig, ein so makelloser Aristokrat wie die Angorakatze, die Leah vor vielen Jahren so begehrt und die ihrer Lehrerin in La Tour gehört hatte, wo Leah als Schulmädchen in einem Pensionat untergebracht war. Andere Mädchen, die dank ihrer Fügsamkeit oder guter Noten oder schlauer Machenschaften zu Favoritinnen der Madame Mullein geworden waren, durften bei gewissen Anlässen die Katze streicheln: Aber die ungezogene, ruppige, aufsässige Leah war nie
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