Lesereise Abu Dhabi
jede erdenkliche Farbschattierung. Dann nimmt sie den Kleber, bestreicht vorsichtig den Schaft, steckt ihn in die Flügelöffnung. Die Tiere merken nichts davon, sie haben keine Angst vor dem Eingriff, denn sie haben eine Lederhaube über den Augen. »Die Falkenburka« nennt Dr. Müller das. Der Eingriff ist nicht schmerzhaft. Feder und Schaft: Sie sind gefühllos. Die Tiere zittern nicht, sie zucken nicht, sie flattern nicht. Sie nehmen den Eingriff ergeben hin. Einige Sekunden wartet die Doktorin, bis der Kleber seine Wirkung getan hat. Dann prüft sie noch einmal den festen Halt. Es ist wie ein Modellflugzeug zusammenzukleben, doch es ist eine Operation am lebenden Objekt. Am lebenden Falken. Dann entlässt sie das Tier zurück zu seinem Herrn.
Ist ein Patient verarztet, schwebt die Doktorin durch die weißen Gänge des Hospitals in den Operationssaal, wo schon der nächste Patient wartet. Heute ist es ein Tier von drei, vielleicht vier Jahren. Ein Weibchen. Die Doktorin zieht ihren hellgrünen Kittel über, schiebt die grüne Haube über die braunen Locken, legt den Mundschutz an. Dann stülpt sie dem Tier die Maske mit dem Betäubungsmittel über den Kopf. Der Atem des Tieres verlangsamt sich. Ein, zwei Züge, und der Falke schläft ein. Jetzt kann die Untersuchung beginnen. Vorsichtig drückt Dr. Müller dem Tier das Endoskopiegerät in den Luftsack. Es rutscht hinunter wie ein Lutschbonbon. Die Kamera zeigt alles auf dem Bildschirm: rote verschlungene Gänge, blaue Adern. Der Patient muss behandelt werden. »Ein Lungenwurm«, sagt Dr. Müller. Auf dem Bildschirm ist er deutlich zu erkennen. Gleich mehrere sind es. Mit den feinen Armen der endoskopischen Pinzette zieht sie die Parasiten aus dem Fleisch. »Viele Falken erkranken an Würmern«, sagt die Doktorin. »Würmer oder Bakterien. Oft ist das Fleisch, das sie essen, verdorben.« Nach nur wenigen Augenblicken ist die Behandlung vorbei. Kaum erwacht das Tier, verlässt es den Behandlungsraum auch schon wieder.
Dr. Margit Müller ist eine angesehene Person in Abu Dhabi. So angesehen, dass man sie 2008 mit dem Abu Dhabi Award ausgezeichnet hat, der höchsten Ehre, die einem Bürger des Wüstenemirats zuteil werden kann. Es ist so etwas wie das Bundesverdienstkreuz der Scheichs. Dr. Müller ist die Direktorin und Cheftierärztin des größten und modernsten Falkenhospitals der Welt, des Abu Dhabi Falcon Hospital. Wenn man von Abu Dhabi-Stadt kommt, dann liegt das flache Gebäude eingerahmt von Palmen an einer Schnellstraße. Von außen könnte man es beinahe übersehen. Doch wenn man davorsteht, erkennt man das Hospital sofort an dem steinernen Falken, der den Eingang ziert. Betritt man das Gebäude durch die breite Schwingtür, dann ist man mittendrin im Geschehen: Dutzende in weiße Dishdashas gehüllte Emiratis drängen sich jeden Morgen im Wartesaal. Vor ihnen auf den eigens dafür angebrachten Sitzbalken kauern die Tiere mit ihren Burkas . Ist ein Falke an der Reihe, hat Dr. Müller ihn unter ihre Fittiche genommen, dann läuft der Halter ungeduldig durch den Raum. Manchmal dauert es nur wenige Minuten, bis klar ist, was dem Tier fehlt. Beinahe genauso oft aber braucht die Doktorin länger, denn manche Untersuchung ist auch bei einem Falken nicht im Handumdrehen gemacht.
Das Abu Dhabi Falcon Hospital wurde am 3. Oktober 1999 eröffnet. Es ist das erste Falkenkrankenhaus der Vereinigten Arabischen Emirate. Sechstausend Falken werden hier jedes Jahr untersucht. Im Behandlungsraum setzen Dr. Müller und ihre Bediensteten Federn ein, legen Bandagen an, entnehmen Blutproben, versehen Tiere mit Chips und nehmen endoskopische Untersuchungen vor. Pediküre, Fußmassagen – beinahe alles ist möglich. Im Hospital gibt es sechzig abgeschottete Krankenräume mit Quarantänemöglichkeit. Draußen stehen zwei riesige Freikäfige für die Mauser und sechs kleinere Volieren, in denen die Falken unter ärztlicher Aufsicht fliegen können. Das Falkenhospital ist wie ein Krankenhaus für Menschen, nur dass es für Tiere ist. Neuerdings werden auch Katzen, Hunde und andere Haustiere in einem eigenen Hospital auf dem Gelände untersucht. »Es ist besser, auf mehreren Beinen zu stehen«, sagt Dr. Müller. Doch das Hauptgeschäft bleiben die Falken. Und die Kundschaft kommt längst nicht mehr nur aus Abu Dhabi und aus den Nachbaremiraten, sondern auch aus Ländern wie Saudi-Arabien, Qatar, Kuwait und Bahrain. Und alle kennen sie Dr. Müller, alle kennen sie die deutsche
Weitere Kostenlose Bücher