Lesereise - Afrika
Papiere braucht, sprich, ein paar Scheine rausrücken soll. Der Einfall hat sicher mit der Tatsache zu tun, dass der Neunzehnjährige mehrmals in meiner Nähe gesehen wurde, ins Afrikanische übersetzt: in der Nähe von Geld. Doch die Frechheit der Abzocker verschafft gleichzeitig eine weitere Möglichkeit, den Jungen zu bewundern, ihm zuzuschauen, wie er so vieles riskiert, um seine Würde zu bewahren. Umgehend rennt er zum Markt und verkauft seine Schuhe. Da auch Schwarze mit nackten Füßen nur blutig von hier nach Zaire gelangen, löse ich die Sandalen wieder aus und zahle die Papiere. Keine Summe für Europäer. Aber hinterher bin ich froh, dass ich gewartet habe, nicht sofort anbot, die Kosten zu übernehmen. Ich mag den Anblick von Männern und Frauen, die das produzieren, was Hemingway einmal mit »grace under pressure« bezeichnete.
Am späten Vormittag kommt die Wahrheit. Die Stunde des Abschieds von meinen tapferen Reisegefährten nutzen Mohamed und Bebekar, um mich aufs Kreuz zu legen. Jetzt nämlich wäre Zahltag. Wir hatten ausgemacht, die Fahrtkosten für Jean-Denis von Birao bis zur zairischen Grenze durch drei zu teilen. Da ich alles vorgestreckt habe, will ich nun ihren Anteil einfordern. Natürlich ist mir nicht zu helfen, einem, der glaubt, zwei abgerissene Schieber würden sich an ihr Wort erinnern.
Ich mag sie noch immer. Auch nachdem sich herausstellt, dass sie nichts teilen. Am wenigsten Geld, das sie nicht haben. Die beiden Juwelengroßhändler bleiben die Wasserträger, als die sie schon immer unterwegs sind. Ich bereue nichts, weil mir plötzlich klar wird, dass sie längst bezahlt haben. Viel mehr als nötig: Mit einem so witzig, so fantasiereich, so rasant gesponnenen Lügennetz tausendundeiner Geschichten.
Durch das Haus des Lustmörders, über den Fluss, im Herz das Feuer
Wir brausen davon. Ab Ndele beginnt Schwarzafrika. Es wird hell und sinnlich, der Einfluss des Islam lässt nach. Ich erinnere mich der unguten Szenen mit Etienne, der ebenfalls mit dem Lkw reiste. Etienne war Lehrer und der einzige Christ, deshalb durfte er nicht mit uns gemeinsam essen. Drei Meter weit weg musste er sitzen, allein. Als ich fragte, warum, hieß es, er sei »unrein«. Greg, der Kanadier, den ich in Khartoum traf, verglich alle Religionen mit Aids. Denn sie erniedrigten den Menschen, zerstörten sein (geistiges) Immunsystem.
Die Busfahrt wird fröhlich. Das Radio sprudelt, das Federvieh zwischen den Beinen protestiert, die Ziege auf dem Dach jammert, Männer und Frauen fassen sich an, lachen, flüstern sich sinnliche Worte ins Ohr, jemand verteilt eine Runde Schnupftabak. Sagt einer »Bonjour«, antwortet der andere: »Merci«. (Wie logisch.) Kommen wir durch ein Dorf, fliegt ein Brief aus dem Fenster. Irgendjemand wird ihn finden und zu jemandem tragen, der lesen kann. Und der wird ihn zustellen. Es geht nicht anders, die Post streikt auch. Bald steigen vier Soldaten zu, sie versprechen, jeden zu beschützen, sollten Strauchdiebe über uns herfallen. (Man weiß nie, vor wem man sich mehr in Acht nehmen soll, vor den Ordnungshütern oder denen, die sie stören wollen.) An allen Polizeiwachen komme ich kostenlos vorbei. Mein Gesetz bleibt in Kraft. Einmal muss der Busfahrer blechen, weil – unfassbar witzig – der Erste-Hilfe-Kasten nicht vollständig ist. »Dieu voit tout«, steht mehrmals in den Amtsstuben zu lesen. Nicht ungeschickt. So manches raubt dem Volk hier den Schlaf, das Regime, die Polizei, das Militär, die Banditen und ein Gott, der alles sieht. Bei einer Dorfausfahrt kriechen wir über eine Behelfskonstruktion, ein paar Schritte daneben liegt die alte Brücke, auf ihr – zur Hälfte im Wasser – der Lastwagen, der sie zusammenbrechen ließ. Man glaubt nicht, wie dankbar man in Afrika wird, wenn man heil das Ende eines Tages erreicht.
In Sibut zweigt die Straße ab nach Mobaye, dem Grenzübergang nach Zaire. Jean-Denis, der vor einem Jahr von dort aufbrach, um in Kairo Sprachen und den Koran zu studieren und der dreitausendfünfhundert Kilometer davor in einem urinstickigen Gefängnis hängenblieb, steigt aus. Wir verabschieden uns. Der so außergewöhnliche Mut und die so wache Intelligenz des Neunzehnjährgen, wie bewundernswert. Ich verspreche, ihn zu besuchen.
Während der restlichen fünf Stunden versüßt mir Amadou die Zeit, wir sitzen nebeneinander. Das Abenteuer suchen, das heißt bei ihm zu Hause: »Das Dorf verlassen und in die große Stadt reisen.« So verließ er
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