Lesereise Finnland
die arktische Form des Mañana.
In den Sprachen der Samen gibt es zwanzig verschiedene Begriffe für Rentier – je nach Beschaffenheit, je nach dem, wie alt, wie groß, wie kräftig das Tier ist. Doch keiner der Züchter hier an diesem Morgen gehört dem samischen Volksstamm an – auch Pertti nicht: »Die Samen und wir hier haben eine Gemeinsamkeit. Wir alle leben von der Rentierzucht, aber samischer Abstammung ist hier und heute keiner von uns Züchtern. Die meisten Samen sind noch weiter nördlich zu Hause. Wir haben Kontakte dorthin, Freundschaften. Einer meiner besten Freunde ist Same.«
Die halbwilden Rentiere werden in ein Gatter getrieben, mit Kennerblick sortiert. Ein paar werden ausgesondert und gleich wieder laufen gelassen, andere zum Transport in die Toyotas verladen, wieder andere vorerst festgebunden und später zur Farm des jeweiligen Züchters transportiert. Dort sollen diese schönsten Bilderbuch-Rentiere besser an den Menschen gewöhnt und ausgebildet werden, später mal Schlitten mit Touristen zu ziehen.
Rentierzucht ist eher Berufung und Leidenschaft als dazu geeignet, reich zu machen. Der Großhandelspreis für Rentierfleisch ist staatlich festgesetzt und seit Jahren unverändert – unter zehn Euro pro Kilo. Nicht viel für all den Aufwand. Ein Kalb bringt vierundzwanzig bis fünfundzwanzig, ein ausgewachsenes Ren sechzig bis maximal neunzig Kilo verwertbares Fleisch auf die Waage. Außerdem ist da noch der Ärger mit der Europäischen Union, deren Bürokraten nach dem Beitritt Finnlands und Schwedens eilig umfangreiche Regelungen zur Rentierzucht ausgearbeitet haben – für die Züchter schlicht »Unsinn«. Wenn das Gespräch darauf kommt, blasen sie die Wangen auf und entladen ihren Unmut in einem ploppenden Geräusch: »Pah, was wissen die in Brüssel schon?!«
Die zur Schlachtung vorgesehenen Tiere bekommen einen Farbklecks aufs Fell gesprüht. Was folgt, ist nichts für zartbesaitete Seelen. Die EU verbietet die Schlachtung im eiskalten Wald zwar – angeblich sei sie unhygienisch. »Ist das Fleisch nicht für den Export bestimmt, ist die Regel aufgehoben. Absurdes Bürokratenwirrwarr«, erzählt die einzige Frau unter den Züchtern. Und schlachtet.
Im Gegenzug wurden Subventionen eingeführt, die es vor dem EU -Beitritt nicht gab.
Ungefähr die Hälfte einer Herde wird jedes Jahr geschlachtet – eher die Böcke als die Muttertiere, denn sie bringen bei fünfzehn bis achtzehn Jahren Lebenserwartung zehn bis zwölf Kälber zur Welt. Gesunde Muttertiere sind das Kapital eines Züchters.
Spätabends, es ist längst wieder finster geworden, haben die Männer der Wildnis ihr Tagewerk beendet. Anfang Dezember wird die Rentierscheidung in ganz Lappland abgeschlossen sein – wie seit Generationen um diese Zeit. Die Züchter stehen ums Lagerfeuer, plauschen noch kurz, erzählen vom Sommer und freuen sich schon wieder auf die Mücken der warmen Jahreszeit: »Sie sind die Freunde auch des armen Mannes«, sagt Pertti. »Sie umschwärmen ihn, als ob er Geld hätte.« Alle lachen. Pertti ist beliebt unter seinen Kollegen – er ist vergnügt, nimmt den harten Job mit Humor, ist weniger wortkarg als die meisten anderen.
»In einer Stadt«, sagt Pertti, »könnte ich nie leben. Ich habe es ausprobiert und ein paar Jahre in Rovaniemi, der Hauptstadt Finnisch-Lapplands, gewohnt. Ich bin fast verrückt geworden. Das Leben ist mir viel zu geregelt dort. Die Uhr bedeutet zu viel, die Wohnungen sind zu eng. Du hast eine Haustür, du hast Nachbarn auf derselben Etage, du siehst die Sterne nicht.« Die anderen nicken. Einer erzählt, er sei einmal in seinem Leben in Helsinki gewesen und verunsichert durch die Hauptstadtstraßen spaziert. Dabei wäre er fast von der resolut heranbimmelnden Straßenbahn überfahren worden und ist daraufhin gleich wieder abgereist: zurück in die karge Einsamkeit Lapplands, zurück ins Land der Nordlichter, ins Land der langen, dunklen Winter und der wunderbaren Sommer, ins Land der Mitternachtssonne.
Manchmal empfängt Pertti Maununiemi Fremde in einem Lappenzelt, das in Erinnerung an alte Traditionen ein paar Schritte von seinem zeitgemäß und zweckmäßig eingerichteten Holzhaus entfernt steht. Er serviert dann Tee und geräucherten Rentierschinken. Zum Nachtisch gibt es Geschichten und Geschichtchen aus dem Alltag eines Rentierzüchters. Alle Augenpaare der Besucher hängen dann an seinen Lippen. Und auch Akso, sein lappländischer Rentier-Hütehund, scheint
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