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Lesereise Finnland

Lesereise Finnland

Titel: Lesereise Finnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Sobik
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Stärkeren erwidert wird – so etwas wie »alles klar, Kumpel« in der Sprache eines Schiffes.
    Zwei Fahrtstunden vor der Küste lässt Jouni Laurila die Maschinen stoppen und die Gangway ausfahren. Ungelenk wie Astronauten trottet ein gutes Dutzend Mutiger in luftgepolsterten Thermoanzügen die Treppe hinab Richtung Ostsee-Eis – bereit zum Bad im eiskalten Wasser der gerade aufgerissenen Fahrrinne am Heck des Schiffes. Langsam gleiten die Verwegenen ins pechschwarze Dunkel des Meeres, treiben in ihren aufgepusteten und wasserdichten Anzügen wie Luftblasen auf der Ostsee umher und jubeln – die einen vor Freude über den eigenen Mut, andere vor Erleichterung, nicht unterzugehen. Zur Belohnung gibt es anschließend einen wärmenden Grog oder Kaffee und später eine vom Kapitän signierte Erinnerungsurkunde.
    Andere Passagiere haben die Zeit zum Spaziergang übers Eis genutzt, sind vorgelaufen zum Bug und haben anerkennend an die robuste Außenhaut des Eisbrecherkolosses geklopft. Jouni Laurila ist an Deck geblieben. Er hat eine gute Erklärung dafür: »Als Kapitän muss ich als letzter von Bord und kann nicht mal eben aussteigen« – einen Moment später verrät er, dass ihm das ganz recht ist. Aus Eislochbaden mache er sich nichts, viel zu kalt sei das. Den letzten Badestopp hat er auf Mittelmeertörn in seiner Frachterzeit eingelegt. Bei gänzlich anderen Temperaturen.

Zwanzig Worte für ein wildes Tier
Mit einem Rentierzüchter unterwegs in der Polarkreisregion Nordfinnlands
    Langsam nur kriecht an diesem Wintermorgen ein Streifen Tageslicht den Horizont hinauf – erst ein roter Schimmer, dann ein feuriger Schein, bald darauf ein bläuliches, klares Leuchten. Ein mystisch-geheimnisvolles Licht. Ein Licht, bei dem man plötzlich die Kobolde im Wald tanzen sieht. Die Sonne wird nicht höher steigen als die Wipfel der Tannen aus dem Schnee herausragen und dennoch über die Polarnacht siegen. Lappland ist das Land der langen Schatten. Drei bis vier Stunden lang ist es in und um Rovaniemi direkt am Polarkreis Anfang Dezember noch jeden Tag hell. Drei Tage vor Weihnachten wird die Sonne sich gar nicht blicken lassen: Polarnacht.
    In Pertti Maununiemis Häuschen duftet es nach frisch geschlagener Kiefer. Die Garderobe ist dreimal so groß wie anderswo. Daunenklamotten brauchen Platz. Im Wohnraum stehen Fernseher und Radio, die Antenne empfängt finnisch-, schwedisch- und englischsprachige Sender. Bei CNN flimmern immer wieder Palmen über die Mattscheibe, während sich am Fenster Eisrosen bilden. Ein kleiner Herd in der Ecke reicht aus, um Tee und Mahlzeiten zu erhitzen.
    Die Heizung lässt sich bis auf über dreißig Grad hochfahren, und falls das mal nicht ausreicht, gehört sicherheitshalber eine eigene Sauna zu Perttis Holzhaus. Sie bringt es auf bis zu hundert Grad. Zur Abkühlung reichen ein paar Schritte ins Freie.
    Pertti Maununiemi stapft in den Schnee hinaus und öffnet seine Daunenjacke. »Ein warmer Tag heute«, ruft er noch, ehe er auf seinem Achtzig- PS -Motorschlitten Richtung Waldsaum davonpflügt. Nur minus acht Grad signalisiert das Thermometer an der Außenwand des Hauses zehn Kilometer vor den Toren von Rovaniemi in Finnisch-Lappland heute. Ein Morgen, an dem die Nasenhärchen nicht gleich beim ersten Durchatmen im Freien festfrieren. Fremde aus wärmeren Breiten bleiben dennoch lieber dick vermummt. In der schneesicheren Zeit von Anfang November bis Ende April fällt die Temperatur hier direkt am Polarkreis auf bis zu minus dreißig, minus fünfunddreißig Grad.
    Dem fülligen Pertti, geboren 1960, mit seinem herzlichen Lachen wie ein Erdbeben der Stärke sechs Komma zwei auf der Richterskala macht das alles nichts aus. Er liebt die Kälte, den Schnee. Er arbeitet bei Wind und Wetter im Freien und düst mit seinem Schlitten mit hundertsechzig Stundenkilometern theoretischer Spitzengeschwindigkeit jedes Jahr Tausende Kilometer weit durch den Winter zu seiner Herde draußen in der Wildnis.
    Pertti macht den härtesten Job, den Finnland zu vergeben hat. Er ist Rentierzüchter – und das ist selbst in Lappland ein aussterbender Beruf, der traditionell innerhalb der Familie Generation für Generation auf den ältesten Sohn übergeht. Den Job kann man nicht lernen, man wird von klein auf dazu erzogen, wächst in ihn hinein.
    Hat der Sohn kein Interesse, wird die Rentierherde verkauft. Perttis einziger Sohn ist elf Jahre alt und im vorletzten Sommer zusammen mit seinem Papa das erste Mal über

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