Lesereise Finnland
Wochen draußen bei der Herde gewesen. Pertti ist stolz darauf und macht sich seitdem ernsthafte Hoffnungen, dass sein Sohn einmal in seine Fußstapfen treten und den Job des Rentierzüchters übernehmen wird.
Unvorstellbar, dass sich jemand von außerhalb der Familie oder gar der Region plötzlich entschlösse, Rentierzüchter zu werden. Ihm würde das Zucken im kleinen Finger als Indiz für Wetterveränderungen fehlen, der Blick für die zarten Farbnuancen der Gräser während der schneefreien Zeit und das Wissen um ihre Bedeutung, das Gehör für das Rauschen der Blätter, die Feinfühligkeit für die vielen zarten Signale der Natur im unwirtlichen Norden. Er würde im endlosen Weiß des Schnees sehr schnell die Orientierung verlieren. Er müsste die auf keiner Landkarte verzeichneten Pfade durch die Tundra Lapplands erst aufspüren. So würde es jedem ergehen, der nicht in den Job des Rentierzüchters von Kindesbeinen an hineingewachsen ist.
Pertti liebt den Winter weit mehr als den Sommer. Er schwelgt in den Nuancen der Farben des Schnees und des Lichts. Er genießt in den klaren, bitterkalten Nächten das Zucken der grüngelben Nordlichter am Himmel.
Diese Nacht fiel Neuschnee. Und der Himmel ist noch vor Sonnenaufgang in ein geisterhaftes blaues Licht getaucht. Dunkle, bärtige Gestalten begrüßen einander auf einem tief verschneiten Waldweg. Unscheinbare Toyota-Kastenwagen holpern schwerfällig über die rutschige Knüppelpiste heran. Nach und nach immer mehr, am Steuer jedesmal eine dieser bärtigen Gestalten im waidmannfarbenen Thermoanzug. Sie begrüßen sich herzlich. Jeder Neuankömmling wird mit einem kanonartigen »Hey, hey« willkommen geheißen, dem finnischen »Hallo«. Rentierzüchter unter sich. Pertti musste vorher die anderen fragen, ob er Gäste mitbringen dürfe.
Die ersten haben sich gleich daran gemacht, in der Umgebung Holz zu sammeln, tragen schneebedeckte Scheite und Geäst heran und schichten es rund um einen Baumstumpf auf, um dort ein Lagerfeuer zu entfachen. Der Atem hängt in kleinen Wölkchen vor Mündern und Nasen. Die Rentierzüchter aus dem Großraum Rovaniemi treffen sich zur Rentierscheidung, zum alljährlichen Zusammentreiben aller Herden und versprengter Tiere der Region.
Dabei geht es darum, die im Mai und Juni geborenen Jungtiere den Müttern und damit auch ihrem Besitzer zuzuordnen und mit dem Zeichen des jeweiligen Züchters zu versehen, einer Messerkerbe im Ohr.
Die Herden werden getrennt nach Tieren, die weiter zur Zucht vorgesehen sind, und solchen, die noch an Ort und Stelle auf dem verschneiten Waldboden geschlachtet werden. Einer allein könnte diese Aufgabe nicht bewältigen. Die Züchter verabreden sich, helfen einander gegenseitig.
Pertti kennt sie alle, steht am Lagerfeuer, reißt Späße, erzählt von seinem Sohn, der heute keine Lust hatte, mitzukommen. Nur eine Frau ist unter den Züchtern – Ausnahme in der gut zwanzigköpfigen Männergesellschaft. Die meisten sind Ende Vierzig, Anfang Fünfzig, haben wettergegerbte Gesichter, in die das Leben seine Spuren eingegraben hat – eine Truppe »Polarkreis-Crocodile-Dundees« mit Finndolch am Hosenbund.
Einer hängt an der Waldwegabzweigung ein Warnschild auf: »Hunde verboten – Rentierarbeit!« Andere schwärmen mit Motorschlitten in die Wälder aus und sind erst nach zwei Stunden zurück. So lange dauert es, bis sie den Großteil der Herde gefunden und zusammengetrieben haben – hundertachtzig Tiere, darunter viele Kälber. Zwischen fünfzig und hundertfünfzig Ren umfasst eine durchschnittliche Herde. Pertti teilt sich ein Zuchtgebiet von siebzig mal zweihundert Kilometern Größe mit zwanzig Kollegen. Das sind vierzehntausend Quadratkilometer – nur knapp weniger als die Fläche des deutschen Bundeslandes Schleswig-Holstein.
Letztes Jahr gab es während der Scheidung kurzzeitig Ärger. Ausgerechnet ein Golfer beschimpfte einen der Züchter wild gestikulierend, als der ein paar Rentiere zwischen roten Fähnchen hindurch über den zugefrorenen Kemijoki trieb. Alljährlich wird auf dem Fluss für vier Monate ein Neun-Loch-Golfplatz eingerichtet. Gespielt wird mit neonfarbenen Bällen. Die Rentiere haben nichts vom Golfplatz gewusst, der Züchter hatte es vergessen und der Golfer nicht damit gerechnet, in den nordischen Alltag zu geraten …
Pertti und seine Kollegen arbeiten ohne Hektik und haben sich ein Sprichwort der Ureinwohner Lapplands zu eigen gemacht: »Auch morgen kommt ein Postbus« –
Weitere Kostenlose Bücher