Lesereise Finnland
Aus einem Eimer auf die Steine geschüttetes Wasser verdampft, hebt so die Luftfeuchtigkeit und regt das Schwitzen an. Heute werden die meisten Saunaöfen elektrisch betrieben.
Schaufensterbummel um Mitternacht
Helsinki im Sommerrausch
In Mitteleuropa ist es längst finster und in Helsinki sind im selben Moment noch nicht mal die Straßenlaternen angeschaltet: ein Sommerabend gegen zweiundzwanzig Uhr in der nach Reykjavík nördlichsten Hauptstadt der Welt. Spaziergänger bevölkern die Parks. In den Straßencafés, die ein paar Wochen zuvor allenthalben aus dem Boden gesprossen sind und in wenigen Wochen wieder verschwunden sein werden, ist kein freier Platz zu bekommen. Kellner rotieren, servieren Eis mit frischen Erdbeeren, starken Kaffee oder finnisches Lapinkulta-Bier. Überall Stimmengewirr, Gelächter, beste Biergartenatmosphäre. Von irgendwoher schallt Jazzmusik, unterbrochen immer wieder von Applaus und Gejohle. Verliebte Pärchen kuscheln engumschlungen auf der breiten Freitreppe vorm neoklassizistischen Dom und unterhalb des Denkmals für Zar Alexander II. auf dem Senatsplatz, turteln auf der Terrasse des Traditionscafés Kappeli im Esplanadipark. Passanten bummeln vor den Schaufenstern der Boutiquen und Designerläden in der Prachtstraße Pohjoisesplanadi und in der parallel verlaufenden Aleksanderinkatu. Der Uhrzeiger ist derweil Richtung Mitternacht vorgerückt, ohne dass sich die Straßen merklich geleert hätten. Helsinki feiert den kurzen Sommer. Der Alltag wird zwischen Anfang Juni und Mitte August von einer beschwingten Leichtigkeit getragen. Lebensfreude regiert. Die Menschen genießen jeden warmen Moment, jeden Sonnenstrahl im Freien, verlagern das Leben in dieser Zeit auf die Straße. Schlafen können sie während des langen Winters. Der Sommer ist zu kostbar dafür. Wer vorzeitig ins Bett ginge, könnte etwas verpassen. Eine neue Bekanntschaft. Einen Wortwechsel, ein Augenzwinkern, einen Flirt. Irgendetwas, was Glücksgefühle ausmacht und vergessen lässt, dass irgendwann wieder die viel zu dunkle Jahreszeit anbricht.
Rund ums Mitsommernachtsfest am 21. Juni geht die Sonne in Helsinki kaum unter. Tage verschmelzen nahtlos miteinander. Die zurückhaltendsten Menschen werden plötzlich gesprächig, nahbar, geben ihre Reserviertheit auf. Und aus ihrer spröden Hauptstadt wird für Stunden, für Tage und mit viel Glück für ein paar Wochen so etwas wie ein Mittelmeerferienort, den es vor lauter Licht kurzzeitig auf den falschen Breitengrad verschlagen hat. Helsinki bei Sommersonne – das ist die schönste, die fröhlichste Stadt der Welt. Bei Regen ist es die traurigste, bei Schneeregen und Kälte die trostloseste Stadt der Welt. Als ob jedes Gebäude, jedes Gesicht, jeder Autoscheinwerfer das Wetter reflektierte. Jedes Wetter. Mehr als irgendwo sonst auf der Welt.
Ein Sommervormittag auf dem Kauppatori-Markt am Hafen gegenüber vom Präsidentenpalast: kein einziger Kunde beim Händler für warme Piroggen – stattdessen Umsatzrekorde für den Eisverkäufer nebenan. Andrang überall dort, wo es kalte Cola gibt. Ein Gitarrist hockt auf der Kaimauer und singt amerikanische Evergreens. Immer wenn er die Schlussakkorde eines Songs spielt, brandet Beifall aus Richtung der Eisbude auf. Ein paar Meter weiter dröhnen die Hits der finnischen Kultband Leningrad Cowboys aus einem Kofferradio. Die Truppe mit den vierzig Zentimeter langen Schuhen und den ebenso langen schmalzigen Haartollen nimmt für sich in Anspruch, »die schlechteste Band der Welt« zu sein. Sie lässt diese Selbsteinschätzung auf jedes ihrer Konzertplakate drucken. Und es gehört zu den Phänomenen Helsinkis, dass ausgerechnet diese Cowboys, Helden eines Kaurismäki-Films, es 1994 schafften, über zwanzigtausend Konzertbesucher auf dem Senatsplatz zu versammeln und ein gewaltiges Happening zu inszenieren. Natürlich an einem Sommerabend. Auf den Stufen des Doms. Unterstützt vom Chor der Roten Armee. Im Winter hätte es Ärger wegen Ruhestörung gegeben. Im Sommer gibt es keine Spielverderber.
Das Thermometer zeigt achtundzwanzig Grad. T -Shirts statt Wollpullis, Baseballkappen statt Pelzmützen bestimmen das Bild. Kinder sind ins Bassin des Havis-Amanda-Brunnens geklettert und lassen sich nass plätschern. Und im angrenzenden Stadthafen bestimmen weiße Segel das Bild. Fähren bahnen sich den Weg zwischen den zahllosen Masten hindurch zu ihren Terminals im Katajanokka-Hafen. Kreuzfahrtschiffe laufen Helsinki in diesen Wochen
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