Lesereise Finnland
können. Und irgendwann erzählt sie doch weiter: Als Kind habe sie oft mit den Geistern gespielt, mit Kindern aus der Unterwelt und mit den wilden Tieren des Waldes – immer zur selben Uhrzeit auf derselben Lichtung im Wald. Die fremden Mädchen haben rote Tracht getragen und hatten dieselben Spielsachen. Sie haben miteinander getanzt, gelacht, gesungen – bis die geheimnisvollen Kinder eines Tages nicht mehr kamen. Maarit hat später einen joik darüber geschrieben, ein samisches Lied, dessen Töne tief in der Kehle geformt werden und dessen Worte für Fremde unverständlich sind.
Sie hält ihre Trommel an die Flammen des Lagerfeuers, damit sich das Leder in der Hitze spannt und den richtigen Klang bekommt, streicht mit der flachen Hand den Rhythmus ihres joiks auf das Fell, schlägt kräftiger, beschleunigt, als trommelten Hunderte Rentierhufe dumpf auf moorigen Waldboden. Sie schließt die Augen, singt voller Tiefe, voller Leidenschaft, als riefe ihre Stimme die Geisterkinder herbei, als höbe ihr Lied die Grenze zwischen den Welten auf. Als könnte man die Erdanziehung ausknipsen und für die Dauer einer Strophe schweben.
Joiks klingen so ähnlich wie die Gesänge der nordamerikanischen Indianer, und die ältesten dieser Lieder erzählen Geschichten aus der Zeit, als Schamanen noch alltäglich waren. »So lange über einen Menschen gejoikt wird, so lange lebt er fort«, sagt Maarit. Eltern schreiben Lieder für ihre Kinder, Kinder welche für die Eltern, Freunde über andere Freunde. Immer gilt eine Regel: Wem das Lied gewidmet ist, der darf es niemals selber singen.
Maarit hat eines über die Geister geschrieben, die auf ihrer Schulter sitzen. Es ist ihr Lieblingslied. Beim joiken spürt sie sie. Sie kommen aus der Spiegelwelt, wo alle Rentiere bunt gescheckt sind und die Wesen rote Tracht tragen. Sie sind in Verbindung geblieben – lange nachdem sie nicht mehr auf derselben Lichtung miteinander spielen. Sie hockt auf ihrem Baumstumpf am Feuer. Sie schaut herunter auf den Boden der Jurte. Auf etwas, das nur sie sehen kann. Für andere ist dort nichts. Sie aber schaut. Und schaut. Und lächelt.
Erst von 1980 an ließen die ersten Pastoren in Lappland zu, dass auch in ihren Gottesdiensten joiks gesungen werden. In manchen Gemeinden ist es heute noch tabu, gilt als heidnisch, als Ausdruck von Unkultur, doch die Grenzen weichen auf und die Kirchenleute von heute haben nur das Symbol des Kreuzes mit den Missionaren von einst gemein. 1992 hat Maarit das erste Mal in ihrer Gemeindekirche gejoikt. »Heute gibt keiner offen zu, zu den alten Geistern zu beten. Aber in die Kirche geht auch kaum einer.« Maarit lächelt wieder. »Für mich ist die Kirche die Natur der Umgebung. Die Fjälle und Wälder sind mein Altar, die Vögel und der Wind meine Orgel. In der Natur fühlst du dich so klein. Und so beschützt. Einmal habe ich in der Kirche das Gefühl von etwas Höherem gehabt – als ich länger als eine Stunde in Nôtre-Dame in Paris gesessen und zu den Fenstern hinaufgeschaut habe. Es war dasselbe Gefühl wie sonst im Lappenzelt oder in der Natur.«
Wenn heute samische Freunde zu Besuch sind, dann sitzen sie lieber in der Jurte beisammen als im Haus, spielen miteinander das Kartenspiel tuppi und kochen Fisch nach alten Rezepten. Und manchmal bereitet Maarit schon am Nachmittag traditionelle kumpus zu, Klößchen aus Rentierblut. Selbst wenn sie niemandem zuvor davon erzählt, stehen plötzlich die Kinder aus der Nachbarschaft bei ihr an der Tür. »Sie lieben meine kumpus.« Sie lächelt und wippt wieder mit den Fellschuhen.
»Früher befasste man sich mit den Problemen der Menschen, die man kannte. Man half sich gegenseitig. Heute wird man mit den Problemen wildfremder Menschen konfrontiert und kann nichts tun. Im Fernsehen. Rund um die Uhr.« Maarit verachtet das Fernsehen. Die Stimmen, die aus dem Flimmerkasten sprechen, haben wenig auszusagen und nichts mit ihrem Alltag zu tun, nichts mit ihren Erinnerungen, wenig mit ihrer Zukunft. »Früher brauchte niemand den Fernseher. Da haben sich Samen und Finnen am Lagerfeuer Geschichten erzählt. Manche wahr. Manche weniger wahr. Das war schön.«
Als das letzte Mal samische Freunde zu Besuch waren, kam Intoo Paadar verspätet dazu: »Ich war draußen bei meinen Rentieren in den Fjälls«, erzählte er, »und habe am Horizont wieder die Herden aus der Spiegelwelt entlangziehen sehen. Sie kommen plötzlich und verschwinden ebenso plötzlich. Es sind weiße Tiere
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