Lesereise Finnland
sprechen. Der Begriff ist zu sehr mit Vergangenheit belegt, klingt negativ, steht für nichts als Autodecks, für ungemütliche Kantinen mit Verpflegungstresen auf Autobahnraststätten-Niveau. Es ist kein neuer Begriff für das gefunden worden, was diese Schiffe heute sind. »Früher ging es darum, ans Ziel zu kommen. Schiffe waren der nötige, aber meist nur zweckmäßige und beizeiten hässliche Brückenersatz. Heute sind sie oft bereits das Reiseziel«, erzählt Ikonen und rückt die Brille mit dem dünnen Silberrahmen zurecht.
Finnen nutzen die großen Schiffe, die zwischen Finnland und Deutschland und vor allem zwischen Helsinki oder Turku und Stockholm oder Tallinn unterwegs sind, längst nicht mehr vorrangig, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Sie buchen solche Touren der Reise selbst wegen, gehen auf Kurzkreuzfahrt, genießen das Bordleben in Restaurants und Bars, in Discos und Boutiquen, in Swimmingpools und gemütlichen Cafés. Die Beförderungsmöglichkeit für Autos, die einst im Vordergrund stand, ist zur Nebensächlichkeit geschrumpft. Sie rundet das Angebot nur noch ab.
Hochgeschaukelt wurde diese Entwicklung durch den jahrelangen Konkurrenzkampf der beiden Reedereirivalen Silja und Viking auf der einträglichen Route zwischen den beiden skandinavischen Hauptstädten Helsinki und Stockholm. Zeitweise liefen Jahr für Jahr neue, viele Millionen Euro teure maritime Prachtbauten mit allen erdenklichen Finessen vom Stapel. Geplant und ausgebaut wurden diese Schiffe bis zum letzten Moment unter strengster Geheimhaltung. Nicht das kleinste Detail durfte vorzeitig nach außen dringen. Der Konkurrent hätte ja mithören, zuerst reagieren, den Marketing-Coup vermasseln können.
Wer mag, kann an Bord edel dinieren, kann gedünsteten Wildlachs mit Kaviarhäubchen ebenso genießen wie Fasanenfilet mit wilden Walderdbeeren oder gebackenes Schneehuhn mit Moltebeerensoße. Wer will, kann an Bord ins Kino oder am Roulettetisch Geld verlieren gehen, kann einen Termin beim Friseur vereinbaren oder sich in der Parfümerie beraten lassen, kann im Duty-free-Shop aus allen Alkoholika der nördlichen Hemisphäre auswählen oder sie ignorieren und sich an Deck den Ostseewind um die Nase wehen lassen. Der blieb unverändert.
Gemeinsam mit dem Restaurantchef ist Otto Ikonen auch für die Bestückung des bordeigenen Weinkellers verantwortlich, der sich – für die Fahrgäste unsichtbar – gleich hinter dem Restaurant auf Deck Vier befindet. Rund ein Drittel der schwimmenden Stadt aus Metall bleibt den Passagieren verborgen, es sei denn, Cruise-Director Matthijs van Dorp organisiert spezielle Führungen, die im Tagesprogramm angekündigt werden: Maschinenraum und Brücke, Küche, Weinkeller und Riesenkühlschränke, Mannschaftskabinen auf den Decks Eins und Acht, Offiziersmesse und Mitarbeiterdisco. Sogar eine Zelle für Störenfriede gibt es. »Aresti« steht harmlos auf Finnisch an der Tür, die an ihrer Innenseite keinen Drücker hat.
Bei einer Spitzengeschwindigkeit von dreißig Komma fünf Knoten – das sind sechsundfünfzig Stundenkilometer mit einem Bremsweg von über tausend Metern – kann Finnjet die knapp tausend Kilometer zwischen Rostock und Helsinki in weniger als vierundzwanzig Stunden zurücklegen. Möglich machen dies zwei Gasturbinen, die nach dem Vorbild von Flugzeugtriebwerken konstruiert wurden. Wegen des enorm hohen Treibstoffverbrauchs werden die Turbinen nur bei einzelnen Hochsaisonabfahrten zugeschaltet, damit das Schiff schnellstmöglich über die Ostseewellen jagen kann. Für den Normalbetrieb reichen die Schiffsdiesel aus.
Weit wie das Maul eines gigantischen Walfisches ist das riesige Tor am Bug des Schiffes aufgerissen und entlässt am Kai in Rostock Hunderte Autos in langen Kolonnen wie überflüssiges Plankton aus seinem metallenen Bauch – Rückkehrer aus dem Finnlandurlaub ebenso wie Finnen, die gerade erst aufgebrochen sind, ihre Ferien in Mitteleuropa zu verbringen. Schon wenig später strömen gleichlange Kolonnen Autos in den schwimmenden Hohlraum hinein, um die Reise in Gegenrichtung anzutreten. Männer in roten Warnwesten weisen die Wagen ein, dirigieren sie zackig mit wortkargen Kommandos auf die verschiedenen Spuren der zwei Auto-Ebenen und leisten dabei ebenso wie die Fahrer Präzisionsarbeit.
Jeder Meter ist verplant, jeder Zentimeter Stellfläche in der Hochsaison verkauft. Geparkt wird Stoßstange an Stoßstange. Ist das Rangieren erst einmal vollbracht, kramen die
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