Lesereise Finnland
Gegengewicht zur unbändigen Kraft seiner tobenden Huskys zu setzen und dem Schlitten einen möglichst sanften Start in die Winterwelt zu bescheren.
Eben erst hat er das zehn Hunde starke Gespann losgebunden. Ungestüm haben die kältegewöhnten Tiere auf ihren Auftritt gewartet. Schon als er sie der Reihe nach ins Geschirr genommen hat, sprangen sie voller Bewegungsdrang und Vorfreude wild durcheinander. Immer wieder musste er die Seile sortieren, die Hundeleinen entknoten und die Huskys auf ihre jeweiligen Positionen zurückverweisen, ehe sie endlich sauber gestaffelt in Reih und Glied standen.
Nur Male bleibt seltsam teilnahmslos. Reijo und seine Leithündin verstehen sich blind. Jeden Ansatz einer Bewegung registriert die sechs Jahre alte Male, jeden Windhauch eines Wortes in der eisigen Morgenluft.
Vorbereitungen zum Start einer Hundeschlittensafari vor den Toren von Ivalo in Nordfinnland.
In der Nacht war das Thermometer auf minus achtzehn Grad gefallen. Die Gesichtszüge gefrieren bei jedem Lächeln. Meterlange Eiszapfen klammern sich an die Dächer der rotbraun gestrichenen Holzhäuser. Die Zweige der Tannen beugen sich unter der Last des Schnees. Einen halben Meter hoch liegt er hier ungefähr auf halbem Weg zwischen der Lappland-Hauptstadt Rovaniemi und dem russischen Eismeerhafen Murmansk um diese Jahreszeit.
Auf dreieinhalbtausend Seelen bringt es Ivalo, auf ein paar kleine Hotels, auf eine Hand voll Outfitter für Wildnistouren und auf Supermärkte, in deren Regalen Moltebeerenmarmelade neben Pudelmützen und Rentierpastete neben Skistöcken und Motorschlittenöl liegt. In Lappland leben auf einem Drittel der Fläche Finnlands nur zweihunderttausend Einwohner – im Schnitt weniger als zwei pro Quadratkilometer.
Reijo ist mit seinen sechzehn Hunden auf einem Waldgrundstück acht Kilometer außerhalb von Ivalo zu Hause. Näher am Ort zu wohnen, wäre unmöglich. Allzu leicht schlagen die Tiere nachts lautstark an, wenn etwa ein Fuchs an den Zwingern vorbeischleicht. Beginnt einer der Hunde zu jaulen oder zu bellen, dann schwillt die Geräuschkulisse binnen Sekunden an. Wie bei einer Kettenreaktion fallen mehr und mehr Huskys in den stimmgewaltigen Chor ein, der meist so abrupt endet wie er eingesetzt hat. Direkten Nachbarn wäre eine solche Geräuschkulisse nicht zuzumuten.
Die Welpen holt sich Reijo immer wieder für ein paar Stunden in sein Wohnzimmer, um sie dort beim Spiel bereits auf sich zu prägen und gleichzeitig herauszufinden, wo ihre Talente stecken.
»Einen künftigen Leithund erkennst du sofort«, sagt der gut sechzigjährige Finne. »Er begreift schneller als die anderen, verinnerlicht deine Kommandos sofort, denkt spürbar mit und löst aus eigener Kraft Probleme. Verheddert sich ein Hund des Gespanns in seiner Leine, kann er sich aus eigener Kraft kaum befreien. Ein Leithund agiert nicht hektisch, sondern scheint planvoll vorzugehen. Er dreht und wendet sich in einer solchen Situation so geschickt, dass er sich selbst befreien kann.«
Während Reijo die bellenden Hunde zur Ruhe ruft und die verordnete Stille keine halbe Minute anhält, schweigt Male und wedelt freundlich mit dem buschigen Schwanz. »Nicht Kraft, sondern Köpfchen zeichnen sie aus. Sie ist cleverer als alle anderen zusammen«, erzählt Reijo. Er streichelt für ein paar Sekunden den graumelierten Kopf seiner Husky-Chefin und klopft ihr lobend auf die Brust. Male ist der schmächtigste Hund des Gespanns – und wird von allen anderen als Anführerin akzeptiert.
Knappe Kommandos dampfen in der Kälte aus Reijos Mund – klare Befehle für Male, die in derselben Sekunde antrabt, in der der Schlittenführer den Fuß von der Bremse nimmt. Kräftig treten sich die Tiere ab, schleudern beim Antritt mit den Hinterbeinen Schnee in die Schlittenwanne, in der es sich die zwei Passagiere dieser Fahrt auf Rentierfellen bequem gemacht haben.
Reijo steht hinten auf den Kufen und dirigiert das Gefährt durch Gewichtsverlagerungen über schmale Waldwege und über das Eis zugefrorener Flüsse. Immer wieder muss er den Schlitten mit vollem Körpereinsatz in die richtige Kurvenlage bringen. Unentwegt kommuniziert er mit Male, weist mit leisen Kommandos den Weg nach rechts oder links, lässt beschleunigen oder mahnt zur Tempominderung. In kritischen Momenten tritt er die Metallbremse ins Eis, um die Geschwindigkeit zu drosseln. Sollte eine Notbremsung nötig werden, müssen die Passagiere einen bereitliegenden Metallanker aus der
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