Lesereise Friaul und Triest
am Horizont tut sich ein Posten in Istrien auf. Also reist Joyce mit Nora Barnacle weiter, ins »maritime Sibirien«, wie er Pula nennt. Die zwei leben sich gut ein. Doch im Frühjahr 1905 müssen sie neuerlich aufbrechen, als alle Mitglieder der ausländischen Kolonie wegen eines Spionageskandals ausgewiesen werden.
Triest, zweiter Versuch. Diesmal kann Joyce bleiben. Er und Nora verbringen hier die nächsten zehn Jahre, hier werden ihr Sohn und ihre Tochter geboren, hier schlägt sich die Familie mehr schlecht als recht durch. Die beiden sind nicht verheiratet, das spricht sich herum. Ja, schlimmer noch: Sie sind ständig verschuldet und schleppen sich von einem Kredit zum nächsten. James Joyce lässt einen Teil seines Einkommens in Bars und Spelunken. Oft genug wird er von seinem Bruder Stanislaus, der ihm nach Triest gefolgt ist, volltrunken aufgegriffen und nach Hause befördert. Ein düsterer Alltag. »And trieste, ah trieste ate my liver!«, heißt es in »Finnegans Wake«. »All moanday, tearsday, wailsday, thumpsday, frightday, shatterday …«
Zwischen dem Lackfabrikanten Ettore Schmitz und dem mercante di gerundii , seinem Gerundienhändler, wie er Joyce nennt, liegen Welten. Und doch auch wieder nicht. Die Englischstunden, an denen auch Signora Schmitz teilnimmt, werden zu Exkursionen durch die Literatur. Die beiden Herren, die der Lebensstil und ein Altersunterschied von gut zwanzig Jahren trennen, kommen einander näher. Joyce, in Triest als heruntergekommener Exzentriker belächelt, fühlt sich in seinem Wesen als Dichter verstanden und bringt eines Tages das Manuskript seiner »Dubliners« mit, um daraus das Schlussstück vorzulesen, »The Dead«. Ettore Schmitz ist begeistert und gerührt. Und fasst sich endlich ein Herz. Er habe ja auch einmal geschrieben, gesteht er, und zieht fast verschämt zwei vergilbte Bändchen aus dem Regal, »Una Vita« und »Senilità«. Ob sich Mr. Joyce, des Italienischen und auch Triestinischen längst mächtig, die beiden Bücher einmal ansehen wolle?
Dies abzulehnen, scheint unmöglich. »Schmitz has given me two novels of his to read«, erzählt Joyce seinem Bruder noch am selben Abend. »I wonder what kind of stuff it is.« Groß sind seine Erwartungen offenbar nicht. Und auch Schmitz bereut es fast, seine Romane aus der Hand gegeben zu haben. Sie seien schlecht, sagen ihm seine Ängste. Umso mehr staunt er, als Joyce wenige Tage später ganze Passagen aus »Senilità« auswendig rezitiert. »Wissen Sie, dass Sie ein verkannter Schriftsteller sind? Es gibt Stellen in ›Senilità‹, die selbst Anatole France nicht hätte besser machen können.«
Ettore Schmitz alias Italo Svevo, so sein nom de plume, ist außer sich. Endlich jemand, der ihn erkannt hat. Er sprudelt über, begleitet Joyce an jenem Nachmittag bis nach Hause, kann sich kaum mehr von ihm trennen. Das frühere Gespräch zwischen Lehrer und Schüler wird zum Diskurs von Dichter zu Dichter. Joyce schreibt in jenen Jahren an den »Dublinern« und dem »Porträt des Künstlers als junger Mann«, das ihn künstlerisch lähmt und in Zweifel stürzt. Er überlässt Schmitz die ersten drei Kapitel zur Lektüre und erbittet dessen Urteil. Es fällt scharf aus: negativ für das erste, positiv für die folgenden Kapitel. Joyce ist so beeindruckt von Schmitz’ Einschätzung, dass er sein Buch endlich weiterschreiben kann.
In der Folge kommt es immer häufiger zu Beratungen. Schon 1906 hatte Joyce erste Ideen für seinen »Ulysses«, der nach 1914 konkretere Gestalt annimmt. Er bestürmt Ettore Schmitz mit Fragen über die jüdische Identität und Seele. Schmitz avanciert zum vielleicht wichtigsten Modell für den Leopold Bloom. In dessen Streifzügen durch Dublin spiegeln sich auch die Straßen der Altstadt von Triest, wie Schmitz 1927 in einer Vorlesung über James Joyce enthüllt hat. Doch damit nicht genug: Schmitz inspiriert Joyce zu »Giacomo Joyce«, als er anregt, es solle doch endlich auch Triest Schauplatz eines seiner Werke werden. Er macht ihn mit Freud vertraut und treibt ihm Flausen aus: Gabriele D’Annunzio und dessen Ästhetizismus, dem Joyce kurzzeitig anhängt, das sei doch Blendwerk. Und sogar Livia Schmitz hinterlässt bleibende Spuren: Ihre Haarpracht taucht Jahre später in »Finnegans Wake« auf. Fußnoten für die Literaturhistoriker.
Ettore Schmitz, so Stanislaus Joyce, sei der einzige Mensch in Triest gewesen, mit dem sein Bruder einen wirklich intimen Austausch über sein
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