Lesereise Friaul und Triest
Dantes »Vita Nuova«, sie lässt ihn die Vitrinen der Salons neu ordnen und in die Familiengeschichte abtauchen. Man probiert’s mit spiritistischen Sitzungen, mit vegetarischer Kost, mit Musik. Vergeblich. Wochen vergehen. Rilke verzweifelt. Er sei nahe daran, sich sogar einer Psychoanalyse zu unterziehen, schreibt er an Lou Andreas-Salomé, er schrecke davor aber doch zurück, weil er das »Aufgeräumtwerden« scheue: »Etwas wie eine desinfizierte Seele kommt dabei heraus.« Mitte Januar, endlich, die ersten Verse: das »Marienleben«, eine subtile Parodie auf die Figuren der christlichen Heilslehre.
Und dann, am 21. Januar 1912, die Begegnung mit dem Gott der Elegien. Er gibt ihm, so Rilke, die Eingebung für sein Hauptwerk und damit für den poetischen Versuch, den Begriff des Lebens über alle denkbaren Grenzen hinaus auszudehnen, bis hin zu dessen Widerpart, dem Tod. Die Dichtung wird zur Möglichkeit des Widerstands, um das vergangene und das vergehende Leben zu bewahren und in eine geistige Existenzform zu verwandeln.
Rilkes »Duineser Elegien« zählen zu den verschlossensten und geheimnisvollsten Gedichtzyklen der deutschsprachigen Literatur: eigenwillig im sprachlichen Duktus, kühn in der Metaphorik, unzugänglich in den Bezügen und Symbolen. Sein Meisterwerk, wie Rilke selbst zu erkennen meint. Vorerst bleibt es Fragment. Denn so sehr sie Rilke auch herbeisehnt: Die fremde Stimme schweigt, sie lehrt ihn Demut und Geduld. Im Mai 1912 reist Rilke aus Duino ab, um Mitte September nochmals für drei Wochen hier einzukehren. Sein nächster Besuch fällt in den Frühling 1914. Kurz darauf bekommen Marie und Alexander von Thurn und Taxis erlauchten Besuch: Der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Gattin Sophie treffen mit ihrer Entourage in Duino ein, um dort zu dinieren und zu nächtigen. Am Tag darauf reisen sie nach Bosnien weiter, um dem Abschluss eines Manövers des k. u. k. XV . und XVI . Korps beizuwohnen. Am 28. Juni fallen die beiden in Sarajewo einem Attentat zum Opfer, das in der Folge den Ersten Weltkrieg auslöst.
Duino gerät direkt in die Kampflinie. Wiewohl es Absichtserklärungen gegeben hat, das Schloss zu verschonen, wird es Anfang 1916 von den Italienern bombardiert. Marie von Thurn und Taxis muss von einem Triestiner Hotelzimmer aus mitansehen, wie das Gemäuer in sich zusammenstürzt. Allein das Treppenhaus mit seiner Wendeltreppe, entstanden nach einem Plan Andrea Palladios, bleibt stehen. Ein Zeichen für die Familie. Sie beschließt, Duino nach alten Plänen wieder aufbauen zu lassen: Maries Sohn ist mit einer der Erbinnen der Johnnie-Walker-Dynastie verheiratet, von dort fließt Geld nach Italien.
Duino hat das Glück, während des Zweiten Weltkriegs nicht nochmals zerstört zu werden. Gegen ungebetene Gäste freilich kann man sich nicht wehren: Zuerst quartieren sich Soldaten der deutschen Kriegsmarine hier ein, später Titos Partisanen, schließlich die Alliierten, die von hier aus die Zone A des Freistaates Triest observieren. In den siebziger und achtziger Jahren werden die finanziellen Ressourcen derer von Thurn und Taxis – oder della Torre e Tasso, wie sie nun wieder heißen – knapp. Die Erhaltung des Schlosses verschlingt Unsummen. Als erster Schritt in Richtung Verkauf wird der Haushalt aufgelöst und das Inventar versteigert. Doch die Veräußerung des leeren Anwesens erweist sich als diffizil, was den Besitzer schließlich zu einer neuen Idee bewegt: Er versucht, all jene Stücke zurückzukaufen, die schon versteigert sind, um das Schloss fortan der Öffentlichkeit als Museum und Konferenzzentrum zugänglich zu machen.
Ist es die Bora, die den Menschen dieser Gegend so viel Durchhaltevermögen gibt? Der Stolz auf Herkunft und Tradition? In den gläsernen Vitrinen präsentieren sich Dokumente aus der Familiengeschichte: Briefe von Hofmannsthal, Mark Twain oder Gabriele D’Annunzio neben den Kinderzeichnungen des Principe Raymond della Torre e Tasso und seltenen Briefmarken. Daneben die Bücher der Marie Bonaparte, der Großmutter des jetzigen Schlossherrn und Freundin Sigmund Freuds. »Topsy – Le ragioni di un amore« – eine Liebeserklärung an den Lieblingshund Freuds. Adelsdekrete, Einladungen zu Soireen, die Programme der Speise- und Festfolgen von Kostümfesten und Banketten und ungezählte Stammbäume, die bis in alle bedeutenden Häuser Europas zu reichen scheinen, in die Wohnzimmer der Romanows, Bourbon-Parmas und
Weitere Kostenlose Bücher