Lesereise Friaul und Triest
das fünf bis sechs Tage in der Woche, manchmal auch zehn hintereinander, je nach Wetter, Kalender und Jahreszeit. Natürlich sei er auch im Winter in der Lagune, erklärt Licio, manchmal auch die ganze Nacht über. Das sei oft hart.
Ob alta marea oder bassa : Man muss wissen, wie man damit umgeht. Bei Flut kann man in den meisten Teilen der Lagune fischen, bei Ebbe nur in den Kanälen, in denen das Wasser steht. Kann’s auch gefährlich werden in diesem seichten Gewässer? Ma si, certamente . Jahrelange Erfahrung gehört dazu, die sei essenziell, meint Licio: um zu spüren, was in der Luft liegt, um alle Zeichen des Himmels richtig zu deuten. Bei Sturm und Gewitter gilt’s aufzupassen. Bora und Scirocco haben eigene Gesetze, mit ihnen ist nicht zu spaßen. Weiße Kreuze auf einer der Inseln vor Grado erinnern an zwei Fischer, die in einem dieser Unwetter umgekommen sind.
Früher einmal, weiß Licio Visca, habe man in der Lagune sogar mit der Hand gefischt. Bei Ebbe suchte man die Fische aus den unterirdischen Kanälen zu fangen, in denen sie sich versteckt hielten. Aber das sei wirklich lange her, meint Licio. Er selbst verwendet Netze und Angel. Aal, See- und Wolfsbarsch seien ihm am liebsten, erzählt er, bei ihm zu Hause komme der branzino fast täglich auf den Tisch. Die übrige Beute bringt er zum mercato all’ingrosso , dem Großmarkt. Von dort wird sie weiterverkauft, direkt an die Hotels und Restaurants oder an die Händler, die Fische und Meeresgetier in der Markthalle von Grado feilbieten.
Auf den Speisekarten der Trattorien und Fischlokale von Grado die typischen Gerichte der Lagune. Der boreto zum Beispiel, die Aalsuppe nach Gradeser Art: Ein Kilogramm Aal, ausgenommen, enthäutet und gewaschen, schneidet man in fünf Zentimeter große Stücke. Öl und Knoblauch werden in einem Topf erhitzt, der Fisch gesalzen und angebraten, mit Wasser übergossen, gepfeffert und zehn Minuten geköchelt. Oder auch die sepie in tegame , in Öl, Butter und Milch gedünstete Tintenfische. Das Friaul liegt am Meer.
In der Lagune leben Traditionen weiter. Das große Feuerwerk im August, die Entenjagd im Herbst, der »Perdòn di Barbana« zu Beginn des Sommers: Am ersten Sonntag jedes Juli fahren die Fischer zur Insel Barbana, eine Prozession von Booten, der Gottesmutter zu Ehren. Man folgt einem Versprechen aus dem Jahr 1237: Maria soll es gewesen sein, die Grado vor einer Pestepidemie bewahrt hat. An die Legende glaubt nicht jeder, doch die Aura des Ortes spüren viele. Die Mauern der Kirche stehen auf den Grundfesten eines Tempels für Belenus, einer karnisch-keltischen Gottheit. Ein heidnischer Kultplatz, den man später zu einem christlichen Heiligtum umwidmete. Und dann das Wunder: Im 6. Jahrhundert, so heißt es, sei ein Sturm über die Laguneninsel gerast. Alle Gebäude, auch die Kirche, werden zerstört, allein ein Marienbild kann man zwischen den Zweigen einer Ulme bergen. Ein Zeichen Gottes, ein Wallfahrtsort ist geboren.
Die Madonna di Barbana wird bis heute verehrt: eine Muttergottes im blauen Mantel, das Jesuskind auf dem Arm, eine goldene Krone auf dem braunen Haar. Unter ihrem Mantel duckt sich die Menschheit. Entlang der Wände des Santuario die Votivtafeln: Fotos von Autowracks, zerbeulten Fahrrädern und kaputten Motorrollern, darunter die Konterfeis der Geretteten, strahlende Gesichter, die Hände und Beine, manchmal auch Köpfe unter Gips und Verband versteckt: Grazie , Maria. Daneben das Meer in Öl und auf Leinwand, Schiffe im Sturm, Menschen, die über das Deck segeln und für immer in der Gischt verschwinden.
Auch die Lagune entzieht sich, sie verschließt ihre Geheimnisse. Der Meeresspiegel steigt, und mit ihm auch das Wasser zwischen Grado und Festland. Viele der kleinen Inseln versinken nach und nach. Irgendwo unten, im Sand und Schlick der Kanäle, verbergen sich Schätze: römische Amphoren, die Reste einer antiken Straße, die Karkassen gesunkener Schiffe, die Mauern mittelalterlicher Kirchen und Klöster.
Das Wissen um die unergründlichen Strömungen und den Lauf unterirdischer Flüsse, das Licht auf dem Wasser, gespiegelt in den Wellen: Das entrückt. Zufall, dass Pier Paolo Pasolini die ersten Szenen seiner »Medea« hier gedreht hat, wo Gegenwart und Vergangenheit so eng beisammen liegen?
Ohne Leidenschaft könne niemand ein guter Fischer werden, erklärt Licio Visca. Man müsse schon einiges aushalten, um sich in diesem Beruf durchzusetzen, da müsse das übrige Leben oft
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