Lesereise Friaul und Triest
»und das Geheimnis seiner Wirklichkeit ist mir kraft meines Ursprungs klar.«
Im Friaul beginnt er zu malen, hier entstehen seine ersten Gedichte, die »Poesie a Casarsa«, die im Juli 1942 in einer Auflage von dreihundert Stück herauskommen. Geschrieben in einem friulanischen Dialekt, »di cà da l’aga«, wie er heißt. Man hört ihn in den Dörfern am westlichen Ufer des Tagliamento. Die Pasolinis sprechen Italienisch, sie fühlen sich als etwas Besseres und wollen nichts gemein haben mit den contadini , den Bauern. Von ihnen und von den Jungen auf der Gasse und am Fluss lernt Pasolini das Furlan. »Im westlichen Friaul, besonders in der Gegend des Basso, konnte man in zehn Minuten mit dem Fahrrad von einem Sprachgebiet in ein anderes kommen, das fünfzig Jahre oder ein Jahrhundert oder auch zwei Jahrhunderte archaischer war.«
Das Friaulische, Furlanische oder Furlan, wie es auch heißt, zählt neben dem Bündnerromanischen und dem Ladinischen zu den rätoromanischen Sprachen und ist vor allem in der Gegend von Pordenone, Udine, Görz und in den karnischen Alpen immer noch verbreitet. Etwa sechshunderttausend Menschen, so schätzt man optimistisch, sprechen Furlan mit seinen ungezählten Varianten, das seit 1999 als offizielle Minderheitensprache anerkannt ist. Seither bemüht man sich um eine Identität jenseits aller Volkstümelei. In vielen Orten finden sich zweisprachige Ortstafeln, es gibt Sprachkurse, eine Online-Zeitung, eine Bibelübersetzung. Und doch: Die Sprache droht immer mehr aus dem Alltag zu verschwinden.
Schon damals, als Pasolinis »Poesie a Casarsa« erscheinen, lösen sie Erstaunen aus: Ein lokales Idiom, ungeschliffener, armseliger und rauer als das übrige Furlan, zeigt Selbstbewusstsein und Würde.
Ciantànt al mè spiéli
ciantànt mi petèni …
al rît tal mè vùli
il Diàul peciadôr.
Sunàit, més ciampànis
Paràilu indavòur
(...)
Ich singe in den Spiegel
und kämme mich beim Singen …
Da lacht in meinem Auge
der sündige Teufel.
Klingt, meine Glocken,
drängt ihn zurück
(…)
In Pasolinis früher Lyrik verbinden sich Szenen aus dem ländlichen Leben mit den verschlüsselt-erotischen Fantasien ihres Autors, mit seinen Schuldgefühlen und Sehnsüchten, dem Erlebnis einer mystischen Krise. Das Schreiben hilft ihm aus der Verwirrung. In jenem Sommer 1941, da Pasolini die Poesie für sich entdeckt, zieht er sich täglich ins Zimmer über dem ehemaligen Tresterlager der Brennerei seines Großvaters zurück. Dort füllen sich die Seiten seiner Kladde mit Gedichten und kleinen Zeichnungen.
Im Winter 1943 – Pier Paolo hat inzwischen das Studium der Literatur und Kunstgeschichte begonnen – beschließt Susanna, von Bologna nach Casarsa zu übersiedeln. Ihr Mann ist in Ostafrika stationiert, den größeren italienischen Städten drohen Bombenangriffe. Sie bringt sich bei ihrer Familie in Sicherheit. Auch Pier Paolo ist eingezogen worden und wenig später in deutsche Gefangenschaft geraten. Von dort ist er ins Friaul geflüchtet. »Im Grunde habe ich das Friaul als eine Art tragisch-schönes Exil empfunden«, erkennt Pasolini Jahre später, »eine Art Gefängnis, in dem ich die Anwandlungen meines Narzissmus inmitten der Maulbeerbäume, Weinreben und Felder des Friaul auslebte.« Er treibt sich am Tagliamento herum und beobachtet die Burschen des Ortes, verliebt sich. Er bekämpft seine Homosexualität und ist gleichzeitig in ihr gefangen.
In jenen Jahren wird Pasolini nicht nur zum Dichter, sondern auch zum Lehrer. Als er bemerkt, dass der Krieg den regelmäßigen Unterricht verhindert, richtet er zusammen mit Freunden eine kleine Schule ein, zuerst in Casarsa, später im nahe gelegenen Versutta, wo er sich mit seiner Mutter versteckt hat. Dort gründet er im Februar 1945 die Academiuta di Lenga Furlana, um sich für die Sprache des Friaul einzusetzen. Man trifft sich zu Lesungen und gibt eine Zeitschrift heraus, den Stroligùt di cà da l’aga .
Pasolini ist längst Teil der dörflichen Gemeinschaft. Als sein Bruder Guido, der sich dem Widerstand angeschlossen hat, im Februar 1945 von rivalisierenden Partisanen erschossen wird, trauert ganz Casarsa mit Susanna und ihrer Familie. Pier Paolo fühlt sich hier heimisch, er hat inzwischen promoviert und unterrichtet in Valvasone an einem staatlichen Gymnasium. Er geht im Dorfalltag auf, organisiert einen Filmclub und spielt Theater. Gleichzeitig engagiert er sich für die Autonomie des Friaul, tritt der
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