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Lesereise Friaul und Triest

Lesereise Friaul und Triest

Titel: Lesereise Friaul und Triest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schaber
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zurückstecken. Doch ein Leben ohne die Lagune könne er sich ohnehin nicht vorstellen. Nirgendwo sonst fühle er sich so frei und der Natur so nahe.
    Natürlich gebe es in Grado auch andere Möglichkeiten, sein Geld zu verdienen. Licio grinst. Da gebe es zum Beispiel das kleine Hotel seiner Mutter. Und natürlich wünsche sie sich, dass er das übernimmt und weiterführt. Vielleicht, irgendwann. Doch seine eigentlichen Wege liegen anderswo. Canal Biero, Fondào de le Oche, Marina de le Ghire, Promero, wie es beim Dichter Giovanni Marchesan heißt. Tapo Rabante, Rio Bueo, Velma Persa, Arzine Luseo, Rio dei Gui, Al Groto, Le Molo, Gorgo. Wer die Sprache der Lagune kennt, kommt nicht so leicht frei, den hält sie gefangen. Und wer den Spuren des Wassers folgt, kann an Land nur stolpern.
    Für G. und H.

In meinem Auge der sündige Teufel
Pier Paolo Pasolini und Casarsa: Geschichte einer Hassliebe
    Niemand soll sie sehen. Und sie haben Glück, es gelingt. An jenem Morgen des 28. Januar 1950 liegt dichter Nebel über Casarsa della Delizia. Zwei Schemen schleichen sich aus dem Haus und rennen zum Bahnhof, ein junger Mann, eine ältere Frau. Sie haben einen Koffer bei sich, dazu eine Handtasche und darin Geld, Pässe und ein wenig Schmuck. Die beiden sind auf der Flucht. In sechs Stunden, wenn sie in Rom ankommen, sind sie erlöst. Nun kann ein neues Leben beginnen.
    Den Zug, den Pier Paolo Pasolini und seine Mutter Susanna an jenem Januartag nehmen, gibt es immer noch: Abfahrt fünf Uhr zwei von Casarsa, umsteigen in Venedig, Weiterfahrt nach Rom. Der Bahnhof wirkt trist, Provinz. Casarsa ist Kleinstadt geblieben, etwas muffig und eng. Weit wird es außerhalb des Ortes, dort, wo die Felder beginnen und das Wasser des Tagliamento zu hören ist. Einer der letzten Wildflüsse des Friaul, unreguliert, nicht ins Bachbett gezwungen. Er sucht sich seine eigenen Wege, jedes Jahr von Neuem, überschwemmt die Äcker, schleppt das Geröll der Berge Richtung Adria. Bei Casarsa ist die Flusslandschaft ausladend, ein steiniges Gelände, von Auen umgeben. Dichte Büsche, Birken, Hagedorn. Hier treffen sich die Jugendlichen, hier sind sie für sich.
    Es sind mehr als fünfzig Jahre vergangen, seit Pier Paolo Pasolini im Dunkel des Morgengrauens aus Casarsa geflohen ist: Man hat ihn der Verführung Minderjähriger angeklagt und will ihm den Prozess machen. Casarsa ist nicht sehr groß. Jeder kennt ihn. Die Schande lastet schwer auf der Familie. Man kann sich nirgends mehr sehen lassen, nicht in der Kirche, nicht beim Einkaufen, nicht am Hauptplatz. Wie soll das weitergehen?
    Zu jenem Zeitpunkt, da Mutter und Sohn das Haus verlassen, ist Pasolini achtundzwanzig Jahre alt. Susanna stammt aus Casarsa, die Colussis sind dort seit 1499 ansässig – wenn nicht schon länger. Das Wappen erzählt ihre Geschichte: ein Wagenrad, umschlossen von einem Oval, und darunter »Iaco di Colus – MDCV «. Die Colùs, wie sie ursprünglich hießen, sind Bauern, Grundbesitzer, Selbständige, stolz und selbstbewusst.
    Auch die Pasolinis tragen den Kopf hoch: Pier Paolos Großvater stammt von den Grafen Pasolini dall’Onda aus Ravenna ab, einer reichen, mächtigen Familie. Doch das Vermögen hat er verschleudert, sein Sohn Carlo Alberto verdingt sich in der Armee. Als Pier Paolo am 5. März 1922 in Bologna geboren wird, ist sein Vater gerade erst zum Hauptmann befördert worden. Susanna und ihre beiden Söhne müssen oft umziehen, Carlo Alberto wird häufig versetzt: Bologna, Parma, Belluno, Conegliano, Sacile, Cremona, dann wieder Bologna. Die Sommer verbringt man bei den Verwandten in Casarsa. Pasolini erinnert sich an Fahrradtouren und Fußballspiele, an die Mystik der katholischen Rituale und die Nachmittage und Abende am Tagliamento, einem »riesigen, steinigen Strom, schneeweiß wie ein Skelett«. An dessen Ufern wurzeln Ängste und Freuden, weiß er Jahre später, die Lust an der Stille, an der Einsamkeit. Er hätte das alles schon als Kind gespürt, schreibt er, »als ich allein im Wasser des Tagliamento zurückgeblieben war und die Gegend ringsum völlig menschenleer war. Da glaubte ich, dass mich der wilde und geräuschlose Gott der Strudel an den Füßen packte. Ich flüchtete nackt und tropfend auf die Uferböschung und schrie vor lauter Glück.« Bologna, wo Pier Paolo das Gymnasium besucht, das ist das städtische Leben, Casarsa bleibt die Begegnung mit sich selbst. »Ich sehe das Friaul als ersten Ort des Lebens«, erkennt er im Rückblick,

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