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Lesereise Friaul und Triest

Lesereise Friaul und Triest

Titel: Lesereise Friaul und Triest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Schaber
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verstrickt. In seinem Zentrum thront Jesus, umgeben von Cherubinen und Engeln. Ihr aller Blick ist unergründlich. Die Edelsteine, die einst ihre Augen zum Strahlen gebracht haben, sind längst herausgeschlagen. Geblieben sind leere Gesichter voll naiver Expressivität, auf Körpern mit wilden und zugleich rührend ungelenken Proportionen: riesige Hände, winzige Füße, gedrungene Leiber, von mächtigen Gewändern umhüllt. Über allem eine Hand, die aus dem Nichts auftaucht und sich schützend über Christus’ Haupt legt. Sie birgt die Welt.
    Den Altar datiert man in die Jahre zwischen 737 und 744. Er ist nach Ratchis benannt, Herzog des Friaul und König der Langobarden, verheiratet mit einer Römerin. Ein fortschrittlicher, toleranter Herrscher. Germanischer Götterglaube und Arianismus verschwinden, das Christentum erobert immer mehr Terrain. Im nahe gelegenen Castelmonte entsteht ein Marienheiligtum, in Cividale errichtet man neue Kirchen und Kapellen. Darunter der Tempietto Longobardo, eines der faszinierendsten und rätselhaftesten Bauwerke jener Zeit und weit übers Friaul und Italien hinaus berühmt. Das kleine Oratorium thront auf einem Felsen hoch über dem Natisone. Steht es auf einem früheren Kultplatz? Und wer hat es bauen lassen, welche Künstler wurden beauftragt? Die Dekorationen aus Stuck führen nach Syrien und Palästina, die Säulen ins antike Griechenland und Rom, die Figuren erinnern an die Mosaike von Ravenna und Byzanz. Entstanden ist der Tempel im späten 8. oder frühen 9. Jahrhundert. Das immerhin scheint man zu wissen. Anderes – und sehr viel mehr – liegt immer noch im Dunkeln.
    Auch die sechs Frauen im Inneren des Tempels schweigen. Unergründliche Gestalten, aus hellem Kalkstuck, majestätisch groß, mit klaren Gesichtern und dem Anflug eines Lächelns um den Mund. Vier von ihnen tragen kostbare Gewänder und Kronen, zwei sind in einfache Pallas gehüllt. Wer waren diese Frauen – Fürstinnen, Priesterinnen oder Heilige? Vielleicht die Märtyrerinnen Chiona, Irene, Agape und Sofia. Generationen von Forschern haben sich mit ihnen getroffen, doch niemand ist ihnen wirklich nahegekommen. Man kann vergleichen, spekulieren, fabulieren: Die Damen, Wesen aus einer fernen Welt, entziehen sich. Strengen Auges überblicken sie den Raum. Er wird zur Zelle, in der die Seele ihre Runden zieht. Einer jener rätselhaften Orte, wie man sie in Cividale immer wieder findet: Plätze, die für ein paar Momente den Herzschlag der Geschichte hören lassen, stärker als anderswo.
    Die Cividalesi leben ganz selbstverständlich mit der Vergangenheit, in mittelalterlichen Fachwerkhäusern, venezianischen palazzi und bodenständigen, fast schon alpin wirkenden Häusern. Die Grenzen zu Slowenien und Österreich sind nah, und auch Hochgebirge und Meer nicht weit. In Cividale finden viele Straßen zusammen. Vielleicht ist das der Grund, hier Jahr für Jahr das sommerliche Mittelfest zu feiern. So hat man es getauft, es trägt einen deutschen Namen. Künstler aus allen Ländern Mitteleuropas reisen hierfür an, zu Konzerten, Lesungen, Theaterabenden. Es ist heute nicht viel anders als früher: Kulturen und Sprachen durchdringen einander, einer nimmt sich vom anderen, was er brauchen kann. Man fürchtet sich nicht mehr vor dem Fremden. Herrscher und Geschlechter sind gekommen und auch wieder abgezogen: Kelten, Römer, Goten, Langobarden, später die Venezianer und die Österreicher, schließlich Franzosen und Italiener. Das öffnet den Blick, macht gleichmütig und besonnen.
    Die ganz alltäglichen Rituale ändern sich ohnehin nicht. Das Gläschen Refosco am Vormittag, der Schwatz mit dem Briefträger, der espresso im Caffè San Marco unter der Loggia des Rathauses. Am frühen Nachmittag endet das geschäftige Treiben. Alle drängen nach Hause. Die Geschäfte haben die Rollbalken unten, aus den Fenstern dringt das Klappern von Geschirr. Dann wird es auch dort still. Siesta . Auf der Piazza Paolo Diacono fährt ein Auto vor, zwei Polizisten steigen aus und verschwinden im Caffè Longobardo. Nichts zu tun um diese Zeit.
    Erst nach sechzehn Uhr erwacht die Stadt aus dem Schlaf. Dann sperren auch die Brüder Scubla ihren Laden wieder auf. Sogar am Sonntag im Geschäft zu stehen, wenn die Cividalesi vom Kirchgang zurückkehren und durch die Altstadt flanieren, scheint selbstverständlich. So war es doch immer schon, und so wird es bleiben, meinen die beiden Herren in ihren altmodischen braunen Kitteln. Verschlossen

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