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Lesereise - Inseln des Nordens

Lesereise - Inseln des Nordens

Titel: Lesereise - Inseln des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Schaefer , Rasso Knoller
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Bald schlüpfen wir in die dicken Schlafsäcke. »Ajunngilaq«, sagt Karl. Er meint nicht die Schlafsackmarke. Ajunngilaq , das heißt auf Grönländisch: »Alles bestens.« Primuskocher und Petroleumlampe brennen die ganze Nacht, geben Wärme und Licht; die Tranlampe spendete Karls Vorfahren beides. Karl und Nils erzählen uns eine Gutenachtgeschichte. Natürlich verstehen wir kein Wort, genaugenommen reden sie auch gar nicht mit uns, aber das kaum modulierte, seltsam gutturale halblaute Gespräch der Grönländer schickt uns in den Schlaf. Als hätten sie uns von Nalikateq erzählt, der Frau, die auf dem Weg zum Monde wohnt und ihren Gästen etwas vortanzt, um ihre Lungen zu verzehren, wenn sie lächeln. Diese und andere Eskimosagen schrieb Knud Rasmussen, Polarforscher aus Ilulissat, vor hundert Jahren auf.
    Am nächsten Morgen packen Karl und Nils alles auf die Schlitten. Nils ist jung und aufgedreht und lebhaft. Karl ist zweiundvierzig, ein Mann, der mit Bewegungen und Emotionen haushält. Mit ruhiger Kraft lenkt er seinen Schlitten. Er ist schlank und groß, hat dunkle Haare und grau-grüne Augen, das Erbe eines norwegischen Vorfahren. Seine sechzehn Hunde gehorchen fast aufs Wort, vor allem, wenn Karl die Stimme hebt. Das passiert, wenn es steil bergab geht, der Schlitten in schmalen Felsrinnen hinabrast. Dann springt Karl vom Schlitten, stellt sich dahinter und spannt die Hunde hinter den Schlitten, als Bremser. Er schaut sich seinen Gast an. Wenn der ängstlich ist, bittet er ihn, zu Fuß zu gehen. Wer aber sitzen bleibt, darf ans Runterfallen nicht mal mehr denken. Heissa, das saust. Keine Angst, keine Angst. Karl steht hinten.
    Heil unten angekommen, klopft Karl dem Gast anerkennend auf die Schulter. Mit all den dicken Klamotten und mit Karls Riesenhänden erinnert das an Umarmungen von Eisbären. Karls Prankenschlag adelt zum Ritter. Nun ziehen die Hunde wieder, Karl läuft nebenher, steigert die Geschwindigkeit wie ein Mittelstürmer im Strafraum und hechtet sich vorne auf dem Schlitten auf seinen Platz. Wir zuckeln stundenlang über einen Fjord. In der Ferne sind Eisberge festgefroren. »Juk, juk, juk«, ruft Karl monoton, dann geht es nach links. »Ililili«, dann nach rechts. Hin und wieder halten wir an. Mit Engelsgeduld entwirrt Karl die Leinen der Hunde und spannt wieder an. Die eisenbeschlagenen Kufen knirschen auf dem hart gefrorenen Schnee. Das schläfert ein. Wind kommt auf, er raut die oberste Schneeschicht auf und fegt sie flach hinweg. Es sieht aus, als würden wir auf Wolken fahren.
    Der Blick schaut ins Blaue, ins Weiße, ins Leere. Es ist wie das Vorbeiziehen der Jahrtausende. Manchmal, wenn wir einen Hügel hinauffahren und das Auge kein Ende der eisigen Welt erkennen kann, ahnen wir, wie gnadenlos dieses arktische Leben der Natur ausgesetzt war und ist. In den Städten Grönlands regiert heute die Zivilisation, aber hier draußen hat sich fast nichts verändert, seit Karls Ahnen mit ihren Hundegespannen hinauszogen. Statt Metall verstärkten Walbarten ihre Schlittenkuven, und statt Nutella und Käse hatten sie getrocknetes Fleisch als Proviant. Aber es ist immer noch die gleiche Hunderasse, die die Schlitten zieht. Dieselben Kommandos schwirren durch die klare Luft, in der man andere Menschen über Kilometer hört. Damit die Stille ein Ende nimmt.
    Tee, sagt Karl. Will er mitten auf dem Fjord den Primuskocher auspacken? Nils nimmt ein großes Messer und stapft auf einen blauen Eisberg zu. Er säbelt Blöcke ab und wirft sie Karl zu. Wir packen sie auf den Schlitten. Abends werfen wir sie in den Topf auf dem Kocher. Beim Erwärmen entweicht mit lautem Prickeln jahrtausendealte Luft. Als dieser Block gefror, war Grönland noch unbesiedelt, machten sich Karls Urahnen vielleicht gerade über die Beringstraße zum amerikanischen Kontinent auf.
    Der blaue Block ist geschmolzen, wir hängen unsere Teebeutel hinein.
Kaja Mörup
    Als im Süden Grönlands eine Telegrafenstation gebaut wurde, nahm Kaja einen Stein aus ihrem Regal, brachte ihn ihrem Freund, dem Ingenieur, und sagte: »Wenn du so einen siehst, bring ihn mir mit!« Der Ingenieur stemmte bald einen mittleren Felsbrocken in ihr Haus in Ilulissat. Ob das so recht sei. Es war recht. Unzählige Schmuckstücke hat die lebhafte, füllige Dänin mittlerweile aus dem Labradorit-Brocken gefertigt. In dem Feldspat schillert Licht grünlich und bläulich, als hätte eine Fee das Nordlicht versteinert. Kaja lebt seit fünfunddreißig Jahren mit

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