Lesereise - Inseln des Nordens
der Jäger. Man lässt Besucher nicht draußen stehen. Und so findet sich in jedem grönländischen Haushalt eine ausladende Couchgarnitur, auf der viele Platz haben. Theodora sitzt neben ihrem Mann auf einem Hocker, ihre schmalen Augen verschwinden in den Sonnenfalten ihres breiten Gesichts, sie neigt ihren Kopf leicht ihrem Mann zu, beide reden leise. Grönländisch klingt wie ein sanftes, kehliges Singen, eine Sprache, die mit Knacklauten Silben verschließt, um die nächste mit einem weiten Vokal zu öffnen. Das erste Wörterbuch des Grönländischen schrieb Samuel Kleinschmidt, 1814 in Lichtenau geboren. Aus dieser Zeit stammt ein Lied, das Chöre gerne singen, es heißt »Eqqaasaqara« – ich habe an dich gedacht.
Theodora Hansen kichert in sich hinein. Es muss zu komisch sein, was ihr Mann gesagt hat. Der schmunzelt, seine grauen Haare stehen zu Berge, Theodoras dunkle Haare liegen wie ein Helm am Kopf an. »Ich bin hier der Bischof«, habe er gesagt, erklärt Theodora auf Dänisch, ihr Mann spricht nur Grönländisch. Und deswegen spiele er sonntags die Orgel.
Das mit dem Bischof war ein Scherz. Doch so weit hergeholt ist der nicht. Lichtenau wurde 1774 von Herrnhutern, pietistischen Missionaren aus Sachsen, gegründet, und in deren Gemeinden predigten auch Laien. Bestimmt haben die beiden Alten eine genügsame, pietistische Lebensweise verinnerlicht. Sie sind nicht nur nicht weggegangen, in ein bequemeres Leben in der Stadt, sondern sie halten sogar die knapp zehn Häuser ihres Dorfes so gut in Schuss wie die kleine Kirche. In den Gärten wachsen Kartoffeln, es gibt sogar ein kleines Gewächshaus, wenn man die Tür öffnet, schlägt warme Luft heraus, die Herbstsonne hat noch Kraft. Keine Tomaten, keine Erbsen wachsen darin, sondern hohe gelbe Blumen. An einem Gartenzaun trocknen Streifen von Fisch, dessen Haut aussieht wie Leopardenfell.
»Sind wir einsam?«, fragt Theodora ihren Mann. Er schüttelt den Kopf. »Nein«, antwortet sie, »wir haben doch uns.« Und sie müssten sich um die Farm kümmern, um die Schafe, die Häuser, arbeiten. Das klingt unerschütterlich, gelassen, nach Glück. Im Sommer kämen ja Besucher, sogar Kreuzfahrtschiffe zögen vorbei. Das amüsiert die beiden erneut, denn schon kleine Boote haben Probleme, in ihrer Bucht anzulegen.
Im Winter kommt niemand. Ihr Sohn wohnt anderthalb Kilometer entfernt, Schaffarmer auch er, er besucht sie mit dem Schneescooter. Vierhundert Schafe hat er, aber das fragt man eigentlich nicht, das sei wie die Frage nach dem Bankkonto. Die beste Zeit? Theodora lacht. »Im Frühjahr und im Sommer ist alles leicht, da haben wir lange Licht, können arbeiten.« Im Winter sei der Wind das Schlimmste. »Hast du Angst vor dem Winter?«, übersetzt sie ihrem Mann die Frage. Er habe nur Angst ums Boot, sagt Theodora Hansen.
Sonne, Windstille, eine geradezu arkadische Heiterkeit – Spätsommer in Südgrönland. Aber das Wetter kann auch anders. Manchmal landet tagelang kein Flugzeug am internationalen Flughafen von Narsarsuaq, weil der Piteraq, der Sturm des Nordens, vom Inlandeis herunterfällt, Küstengewässer peitscht, Gras auf den Weiden zerwühlt wie Bettlaken und an den Holzhäusern rüttelt, dass man zu glauben anfängt, ein tupilaq , der böse Geist der Eskimomythologie, verlange Einlass. Dann fliegt kein Helikopter mehr zwischen den Städten und den Wohnsiedlungen, und kein Boot fährt mehr. Auch nicht der alte Kutter von Jack Simoud. »Das Wetter ist der Boss«, sagt er dann. Touristen müssen sich in Geduld üben.
Jack Simoud, der mit seinem Boot in der Bucht darauf wartet, dass die Ausflügler vom kaffeemik zurückkehren, kam 1976 aus den französischen Seealpen nach Grönland. »Ich habe vergessen, wieder nach Hause zu fahren«, sagt er. Mit seinem Holzkutter »Puttut« fährt er Touristen in mit Eisbergen gefüllte Fjorde. Das Boot stammt aus den sechziger Jahren, jeder Ort bekam damals ein Boot, auf dem ein Arzt mit drei Matrosen und einer Krankenschwester zu Siedlungen wie Lichtenau fuhr. Auf Jacks Boot zurückzukommen, ist gar nicht so einfach, »wir brauchen dringend einen Bootssteg«, sagt er. Denn es gibt große Pläne für das kleine Dorf: Aus Lichtenau soll ein Seminarzentrum werden. Beim Umbau sollen grönländische Jugendliche lernen, einheimische Bausubstanz zu renovieren. Die Ausbildungssituation ist katastrophal: Nach der neunjährigen Schulzeit beenden nur zwei Prozent aller Schüler eine weiterführende Schule oder eine Lehre.
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