Lesereise - Inseln des Nordens
schießen könne. Lisa sieht aus wie ein Mädchen aus einer Vorabendserie, nur dass hinter ihr an der Wand keine Poster hängen, sondern fünfzehn Gewehre, mit einem Vorhängeschloss gesichert. Lisa arbeitet in der Svalbardbutikken in Longyearbyen, sie verkauft Ausrüstung für Touren, und dazu gehören auf Spitzbergen Gewehre. Der Eisbären wegen.
Man könne niemanden zwingen, ein Gewehr mit sich herumzutragen, sagt Lisa, aber sie rate es allen. Außerhalb Longyearbyens wird man kaum jemanden ohne Waffe antreffen, und auch innerhalb der Stadt wäre es im Grunde nicht schlecht. »Letztes Jahr kam einer bis zum Tor vom Kindergarten«, erzählt Lisa. Es ist eine von zahllosen Eisbärgeschichten, die Besucher auf Spitzbergen zu hören bekommen.
»Ich habe zwei Pistolen, eine vierundvierziger und eine dreihundertfünfundsiebziger Magnum. Die Flinten sind mir für Wanderungen zu schwer«, sagt Lisa und startet wieder ihr Hat-das-Greenhorn-noch-mehr-Fragen-Grinsen. Kann hier jeder ein Gewehr kaufen? Nein, kann er nicht. Aber leihen. Das kostet hundert Kronen am Tag. Wer keine Jagdlizenz hat, muss zeigen, dass er dennoch mit einem Gewehr umgehen kann. Wer das nicht kann, aber schnell lernt, mit dem geht Lisa zum öffentlichen Schießstand und bringt es ihm bei.
Mit achtzehn Jahren kam Lisa nach Longyearbyen, spannend fand sie die Vorstellung, so weit im Norden zu sein, sie kommt aus Hamarøy, das in Norwegen und auch schon nördlich des Polarkreises liegt. Wie ist das auszuhalten, wenn es völlig finster ist? Auch diese Frage hat Lisa schon gehört. Also: Die Sonne erhebt sich am 8. März das erste Mal wieder über die spitzen Berge, nach denen Barentsz 1596 die Insel benannt hat. Der Name Svalbard ist noch älter, findet sich in einer Wikinger-Aufzeichnung von 1194: Svalbardi fundinn , »kalte Küste gefunden«. Doch bedeutet dies ja nicht, dass es bis 8. März finster ist, und dann einer den Schalter fürs Licht anknipst. Schon im Februar weicht die Polarnacht einem Licht, das sich schwer beschreiben lässt. Der Himmel schüttet ein leuchtendes Blau aus, eine Stimmung vergleichbar einem späten Januarnachmittag etwa in St. Moritz, wenn die Sonne gerade hinter den Bergen verschwunden ist. Blauer Monat, so nennen sie diese Zeit. Wer aber die gut zweimonatige Polarnacht nicht aushält, sagt Lisa lapidar, verschwindet nach dem ersten Winter wieder. Andere stellen sich auf den Tisch eine sol lampe und arbeiten mit Lichttherapie dem Norden zuwider. Lisa nicht.
Der Svalbard-Archipel mit der größten und einzig bewohnten Insel Spitzbergen gehört zu Norwegen, liegt aber vom norwegischen Nordkap so weit entfernt wie Oslo von Frankfurt. Spitzbergen befindet sich weit nördlich von allen sibirischen Landstrichen, nördlicher als alle Städte und Siedlungen Alaskas und Kanadas. Es liegt etwa auf der Höhe des magnetischen Nordpols, zum geografischen Pol fehlen nur noch gut tausend Kilometer.
Besiedelt wurde die Region erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch westliche Pelztierjäger und später durch Kohlenkompanien. Auf Svalbard gab es nie eine Urbevölkerung, Tschuktschen, Ewenken, Samojeden, Inuit, Inupiak oder Aleuten, keines der zirkumpolaren Völker wurde hier ansässig. In Longyearbyen leben hauptsächlich Skandinavier, aber auch Menschen aus weiteren dreißig Nationen, mit Thailändern als der am schnellsten wachsenden ausländischen Gemeinde. Longyearbyen ist schon lange keine Männerwelt von Minenarbeitern mehr, sondern eine Heimat für Familien. Jährlich werden fünfzehn Kinder geboren, es gibt drei Kindergärten. Während früher jeder, der das Pensionsalter erreicht hatte, die Insel verlassen musste, kann man heute ein Haus kaufen und bleiben.
Lisa sagt, sie wolle hier nie mehr weg. Sie fährt oft mit ihrem Schneescooter hinaus, natürlich hat sie eine Waffe dabei. Geschossen hat sie allerdings noch nie auf einen Eisbären. Es gelten strenge Gesetze zum Schutz des größten Raubtiers. Auf Grönland, wo der Bär offiziell ebenfalls unter Schutz steht, bei Notwehr aber geschossen – und das Fell behalten – werden darf, springt beim Ruf »Eisbär!« schon mal ein ganzes Dorf auf die Motorschlitten.
Die Touristensaison beginnt Ende März, dann verleiht Lisa mehrere Gewehre am Tag, die Nachfrage ist groß. Wenn aber im Sommer Kreuzfahrtschiffe im Hafen von Longyearbyen anlegen und Schiffsladungen von warm eingepackten Besuchern durch den Ort streunen, sperrt sie das Vorhängeschloss gar nicht erst auf. »Die
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