Lesereise - Jakobsweg
dämmert uns, dass Schulen fast immer so aussehen. Wir spinnen, denken wir uns, und die anderen denken sich dasselbe von uns, denn wir grüßen sie. Obwohl in der Stadt aufgewachsen, haben wir die Spielregeln der Stadt schnell vergessen. In der Stadt grüßt man nicht. Man sieht den Leuten auch nicht zu lange in die Augen, vor allem dann nicht, wenn man so aussieht wie wir.
Die Stadt hat dafür andere Qualitäten. Zum Beispiel einen Waschsalon mit Trockner. Und tolle Cafés. Und elegante Leute (unter denen wir unangenehm auffallen). Und Buchhandlungen. Und viele Zeitungen. Mit Genuss lese ich zum Beispiel die Beilage der Süddeutschen Zeitung zur Frankfurter Buchmesse. Stell dir vor, es ist Buchmesse, und du sitzt in Cahors.
Wir dürfen in der hiesigen Jugendherberge übernachten. Die Leute sind sehr nett und stellen uns ein Zusatzklappbett in eines der Zimmer. Unsere ganze Jugend lang haben wir nie in einer Jugendherberge übernachtet. Wie man sieht: Es ist nie zu spät im Leben.
Lascabanes, 9. Oktober
Am Vormittag waren wir in einem Sportgeschäft, um neue T-Shirts zu kaufen. Die Verkäuferin identifizierte uns als Pilger und wollte mit dem Satz: »Es gibt ja so viele Gründe, warum jemand pilgern geht« unsere Motive aus uns herauslocken. Da fiel uns auf, dass wir sie noch immer nicht kannten. Sie erzählte uns von einem Bekannten, dem ein Bein amputiert werden sollte. Nachdem sein Bein gerettet werden konnte, hielt er sein Gelübde und ging nach Santiago. Mit solchen Geschichten können wir zum Glück nicht dienen. »Prendre du recul« – Abstand gewinnen, sagten wir. Mit ein wenig Abstand kann man das Ganze klarer erkennen, verliert sich nicht im täglichen Kleinkram, kommt auf neue Ideen. Die Übersicht verhindert vielleicht, dass man zu viel übersieht.
Über den beeindruckenden Pont Valentré, eine mittelalterliche Wehrbrücke, zogen wir aus Cahors hinaus. Über einen glitschigen, mit Eisenhaken gesicherten Klettersteig (die einzige gefährliche Stelle bisher) gewannen wir schnell an Höhe. Danach ging es an der Autobahn entlang und dann unter der Autobahn durch und dann eine Asphaltstraße entlang. Als endlich das typische Eichenwäldchen kam, waren wir von dem langen Marsch durch die Zivilisation erschöpft, und außerdem schmerzten mich die Knie. »Wir stoppen die letzten Kilometer einfach«, sagte ich. Ich wiederholte das auch bei jedem Auto, das an uns vorbeiraste – ein Running Gag im wahrsten Sinne des Wortes.
Doch plötzlich blieb einer völlig unerwartet – wir erschraken beinahe – stehen und stieg aus. Er trug einen roten Pullover mit Krawatte darunter, und sein Schnurrbart erinnerte uns ein bisschen an den guten alten Marcello Mastroianni.
Wir fragten ihn, ob er nach Lascabanes fahre, woraufhin er uns mit großartiger Geste die Hände schüttelte. Richtig geraten – ein Politiker. »Ich bin der Bürgermeister von Lascabanes«, stellte er sich vor, und fünf Minuten später waren wir in seinem Reich. Lascabanes ist ein netter, aber völlig ausgestorbener Ort. Wir fragten uns insgeheim, wen der Bürgermeister eigentlich regiert.
Monsieur le maire ist sehr stolz auf seinen neu errichteten gîte d’étape – und das zu Recht. Es ist der alte Pfarrhof neben der Kirche, zu einer 3-Sterne-Pilgerherberge umgebaut: mit Rittertafel im Speisesaal, einem kleinen Kaffeeraum im Empfangssaal, großzügigen Zimmern mit Dusche und nagelneuen Betten, in denen man nicht im Nichts zu versinken glaubt. Es gibt eine große, komplett eingerichtete Küche und eine kleine Lebensmittelhandlung, in der Pilger Verpflegung kaufen können. Wir erstehen eine Dose Ravioli, ein Traum, der sich in unserer Kindheit nur selten erfüllt hat, weil unsere Mütter immer so gut gekocht haben. Auch Ursula war schon hier, vor sechs Tagen: »Nach zwei harten Tagen und einer noch härteren Nacht (ich musste in Pech Olli in der Scheune schlafen, weil die gîte geschlossen war), genieße ich diese schöne Unterkunft. Danke! Ursula (Hof/Bayern->Santiago.)«
Lauzerte, 10. Oktober
Barbara, das statistische Zentralamt, hat gerade ausgerechnet, dass wir im Schnitt 21,5 km am Tag gehen, dass wir also insgesamt 73 Tage für den Weg brauchen würden – 18 Tage sind vorbei, 55 stehen bevor. Es wäre schön, wenn wir schneller werden könnten, aber das ist bei diesen Wetterverhältnissen schwierig. Wenn wir mittags in der Sonne eine kleine Siesta machen könnten, wäre es leichter, mehr zu gehen. Aber dafür ist es meistens zu kalt; man
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