Lesereise - Jakobsweg
merkt außerdem schon, dass die Tage immer kürzer werden.
Weil es so kalt war, haben wir uns heute auf dem Weg in Montcuq ein Restaurant geleistet, wo wir – eher ungewöhnlich für Südfrankreich, ich sage das ohne Ironie – gut gegessen haben: eine Omelette mit Steinpilzen. Das Lokal gehörte der etwas gehobenen Kategorie an, und es war uns ein bisschen peinlich, beim Hinausgehen zu bemerken, dass unter unseren Stühlen kleine Schmutzhaufen lagen.
Der Wind war lästig, der Weg dennoch schön. Wir sahen viele idyllische »Spielzeugbauernhöfe« – sie erinnerten uns an diese netten Häuser, mit denen wir als Kinder gespielt hatten, vor die man Plastikkühe und Plastikhühner und Plastikbäume hatte stellen können. Ähnlich hübsch arrangiert sehen die Bauernhöfe hier im Département Tarn-et-Garonne aus.
Lauzerte liegt mächtig auf einem Hügel. Mit der Bausubstanz (zum Teil Renaissance), die hier verfällt, könnte man eine ganze Modellstadt bauen. Lauzerte wirkt auf den ersten Blick ausgestorben. Das täuscht: Es gibt tolle Lokale und viele junge Leute und – etwa ab Mitternacht – eine richtige »Szene«. Und wenn man Glück hat wie wir, dann erreicht man Lauzerte an einem Samstag und erlebt eines der tollen Jazzkonzerte im Café am Hauptplatz.
Saint-Antoine, 12. Oktober
Mittlerweile sind zwei Tage vergangen, und wir haben die schwerste Sinnkrise unserer Reise hinter uns. Der Reihe nach: Ein Monsieur hat uns in Lauzerte ganz dringend davon abgeraten, auf »unserem« Wanderweg GR 65 nach Moissac zu gehen. In dem Wald, den wir da durchqueren müssen, sei heute nämlich Wildschweintreibjagd, und angeblich schießen die Jäger auf alles, was sich bewegt, auch wenn es, wie wir, rot, gelb und blau ist.
Wir sind also die Hauptstraße entlanggegangen, und das war ziemlich zermürbend: Die Autos rasen an einem vorbei und machen einem dabei nicht nur Angst, sondern auch schlechte Luft und einen Brummschädel. Zum Glück hat uns nach zwei Stunden ein netter junger Mann ein paar Kilometer mitgenommen und zu einer weniger befahrenen Straße gebracht, auf der wir dann nach Moissac gegangen sind.
Moissac ist ein schöner Ort, und auch Antiklerikale sollten sich eine Besichtigung der Kirche Saint-Pierre sowie des Klosters nicht entgehen lassen. Die Wandbemalung der Kirche ist innen vollständig erhalten – ein ebenso seltener wie beeindruckender Anblick. Der Kreuzgang des Klosters, in dessen Innenhof eine riesige Zeder steht, kommt durch den Wechsel von Licht und Schatten bei Sonnenschein besonders zur Geltung. Fast wäre dieses Juwel im letzten Jahrhundert abgerissen worden, um im wahrsten Sinne des Wortes vom Fortschritt überfahren zu werden: Es sollte den Weichen der Eisenbahn weichen.
Nach dem Besuch dieser Sehenswürdigkeiten gingen wir ins »Syndicat d’initiative«, das Tourismusbüro. Dort entrichteten wir die Kosten für den gîte d’étape und erfuhren, wo der Schlüssel liegt. Ich verrate das Versteck jetzt nicht, denn der gîte d’étape von Moissac, außerhalb der Stadt neben einem Campingplatz gelegen, ist mit Abstand die hässlichste Absteige, die uns bis jetzt untergekommen ist. Die Hälfte der Lichter geht nicht, die Matratzen sind so dreckig, dass man nicht einmal seinen Schlafsack (geschweige denn sich selbst) darauflegen will, die Badezimmer und Toiletten sind in einem erbärmlichen Zustand, und es riecht nach einer Mischung aus Kanal und Schimmel. Wir haben nicht geduscht, weil wir uns sicher waren, so sauberer zu bleiben. Außerdem gab es in den Duschen wieder diese Plastikvorhänge. Ich hasse sie. Und sie lieben mich. Ich hasse sie, weil sie jeden lieben. Sie haben Schimmelflecke und Schmutzränder, und sie riechen auch so, und mit ein bisschen hypochondrischer Fantasie kann man die Pilzkulturen auf ihnen wachsen sehen. Sie nähern sich einem schamlos an, penetrant flatternd, und kaum passt man einmal beim Duschen kurz nicht auf, kleben sie schon am ganzen Körper, und man weiß nicht, wie man sie wieder loswerden kann.
Ein geöffnetes Hotel hatten wir nirgendwo gesehen, und so haben wir unsere Rucksäcke abgestellt und sind den ganzen Weg in die Stadt zurückgegangen, um eine Pizza zu essen. Auf dem Rückweg zur Herberge hat es zu schütten begonnen, und völlig durchnässt haben wir unser Quartier erreicht. Wir konnten uns aber nicht überwinden, uns hinzulegen, weil alles so grausig wirkte, und so haben wir beim Schein einer nackten Glühbirne frierend darüber nachgedacht, ob es
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