Lesereise - Jakobsweg
nicht angenehmere Möglichkeiten gäbe, seine Zeit und sein Geld loszuwerden. Schließlich sehen wir die Welt weder als Jammertal noch als Korrekturanstalt, sondern als bisweilen liebenswerten Planeten – warum also freiwillig leiden? Warum jeden Tag gehen? Warum morgen wieder die nasskalten Kleider anziehen und zur nächsten verschimmelten Unterkunft wanken? Eigentlich hat uns an diesem Abend nur eines daran gehindert, nach Hause zu fahren: die Tatsache, dass wir zwar ein Lager für unsere Möbel, aber kein Zuhause hatten.
Zu unserer Krise kommt hinzu, dass wir unsere Identität als »Pilger« mangels tiefer religiöser Motivation immer »von außen« gewinnen mussten. Wir sind Pilger, weil die anderen uns dafür halten. Doch seit Cahors gibt uns niemand mehr das Gefühl, Pilger zu sein. Wir werden eher wie lästige Billigtouristen behandelt, was wir letztendlich auch sind.
Es half nichts. Wir legten uns schlafen, sozusagen mit spitzen Fingern. Die ganze Nacht über regnete es ununterbrochen. Wir hörten es nicht nur, wir sahen es auch, weil die Straßenlaterne direkt vor unserem Fenster es uns mit erschreckender Deutlichkeit sichtbar machte.
Als wir in der Früh ins Freie treten, geht gerade die Sonne auf und scheint uns ins Gesicht. Wir beschließen weiterzugehen. Es ist erstaunlich, welche Sogwirkung der Jakobsweg hat. Ich glaube, es ist fast unmöglich aufzugeben, wenn man einmal losgegangen ist. Und, als wollte er diesen Sog noch verstärken, zeigt sich auch der Weg von seiner besten Seite. Das Gehen unter Platanenalleen den gemächlich sich dahinwälzenden Canal du Midi entlang ist denkbar angenehm, und auch später wird die Harmonie nur durch das nahe Atomkraftwerk gestört. Die Dampfwolken, die es ausstößt, scheinen die Form des Atompilzes schon vorweggenommen zu haben.
Die Landschaft hat sich sehr verändert – Wein gibt es jetzt und Obstplantagen sowie Tomaten- und Melonenfelder. Der Süden wird so richtig südlich.
Auch Saint-Antoine schafft es, uns wieder zu motivieren: ein kleiner Ort, genau das, was Tourismusführer gerne »pittoresk« nennen. Die Bevölkerung ist überwiegend britisch – an jedem zweiten Haus in dieser Region steht »à vendre«, zu verkaufen, und hier ist eben das meiste schon verkauft.
Auf einer Steinmauer sitzt eine junge Frau. Hut, Stock, Rucksack, feste Schuhe – eine Pilgerin, kein Zweifel. Wir gehen zu ihr und stellen uns vor. Sie heißt Sophie, ist eine Woche vor uns in Le Puy weggegangen und dennoch langsamer unterwegs, weil sie sich gleich am ersten Tag verletzt hat: Als sie das erste Mal ihren Rucksack auf die Schultern geschwungen hat, ist ihr eine Rippe aus der Verankerung gesprungen. Das klingt jetzt – zugegeben – ziemlich unwissenschaftlich, tut aber offensichtlich sehr weh. Sophie hat seitdem ihren Rucksack von 14 Kilo allmählich auf fünf Kilo reduziert. Trotzdem weint und schreit sie beim Gehen oft vor Schmerzen. Heute geht es aber gut, und deshalb will sie noch ein bisschen weiterkommen. Wir hoffen, sie morgen in Lectoure wiederzutreffen.
Unsere Wirtin, Madame Dupont, ist eine schöne ältere Frau mit lustigen Augen und einem resoluten Gang. Sie gibt uns den Schlüssel zu der kleinen romanisch-mozarabischen Kirche, die für mich die prunkvolle Konkurrentin aus Moissac an Schönheit mühelos übertrifft. Außerdem stellt uns Madame Dupont einen kleinen Gasofen als Heizung auf und bekocht uns liebevoll: Es gibt diesmal nicht vier, sondern sechs Gänge – Suppe, Toast, Salat, Teigwaren, Fleisch, Käse und Dessert. Wir fühlen uns rundherum wohl. Es ist einfach schön, wenn man spürt, dass es da jemanden gibt, dem es nicht gänzlich egal ist, wie es einem geht. Ich verstehe erst heute, warum Vertreter oder andere Menschen, die beruflich viel unterwegs sind, Quartiere mit »Familienanschluss« bevorzugen.
Das Gästebuch von Madame Dupont hält eine tolle Überraschung für uns bereit: »An alle weiblichen Pilgerinnen: Seid auf der Hut vor Hunden, wurde auf dem Hintern zärtlich angeknabbert … Und noch an alle unterernährten Pilger: Stopft Euch mit Couscous (sprich Kusskuss) voll und spült zuletzt mit einer Flasche Rotwein nach. Ein Dankeschön an Saint-Antoine! Ultreïa, Ursula und Marco.«
Da haben sich die zwei also tatsächlich gefunden, die bodenständige Deutsche und der verträumte Schweizer! Ursula scheint von Marco ziemlich angetan zu sein: Die Geschichten von Knabbern und Kusskuss muss man wohl nicht näher erläutern … Wir sind schon
Weitere Kostenlose Bücher