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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Freund
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gespannt, wie das weitergeht.
Lectoure, 13. Oktober
    Heute war der erste durchgehend sonnige und windstille Tag, seit wir vor mittlerweile drei Wochen in Le Puy weggegangen sind. Im Sud-Ouest, der einzigen Zeitung, die man hier für gewöhnlich bekommt, habe ich etwas von Azorenhoch gelesen. Bei so einem Wetter ist alles gleich anders. Ich verstehe, dass das Wetter das Gesprächsthema Nummer eins ist, auch wenn es heute nur noch für Bauern (und für Pilger) existenzielle Bedeutung hat.
    Der Weg geht zwischen Feldern und Hügeln gemütlich dahin, führt an Schlössern und Wäldern vorbei, bringt einem Bekanntschaften – ein englisches Ehepaar zum Beispiel, das uns entgegenreitet, beide in tadelloser Kleidung und ebensolcher Haltung, das Britische schon aus hundert Metern Entfernung erkennen lassend, sie auf einem Pferd, er auf einem Esel …
    Manchmal finden wir den Weg auch zu gemütlich. Auf unserer Karte sehen wir, dass er in einem ziemlichen Zickzackkurs auf Lectoure zuführt, alle Kirchen und Kapellen der Umgebung mitnehmend, was ja eigentlich recht nett ist, weil diese oft sehr schön sind und fast immer neben alten heidnischen Quellheiligtümern liegen. Aber heute finden wir die Umwege zu wild und planen eine geniale Abkürzung. Doch genau dort, wo wir das riesige U im Weg abschneiden wollen, steht ein großes Schild: »Privatweg. Durchgang verboten. Achtung, Pitbull-Terrier.« Wir sind uns ziemlich sicher, dass die Pitbull-Geschichte erfunden ist. Aber so genau wollen wir die Wahrheit gar nicht wissen.
    Lectoure finden wir so mittelprächtig. Die Kathedrale ist imposant, aber wenig einladend; der gîte d’étape recht nett, in einem alten Fachwerkhaus untergebracht. Von Sophie, der Pilgerin aus Saint-Antoine, keine Spur. Wo mag sie wohl geblieben sein?
La Romieu, 14. Oktober
    La Romieu ist ein kleiner, liebenswerter Ort, in dem um 1260 Arnaud d’Aux zur Welt kam, der später als Kardinal einer der einflussreichsten Berater von Papst Clemens V. war. Deshalb verfügt dieses Dorf auch über eine große Kirche und ein beeindruckendes frühgotisches Kloster. Alles hier zeigt: Ich habe Geschichte, sogar der gîte d’étape. Er ist in eine ehemalige Kirche aus dem 12. Jahrhundert integriert, nicht sehr geschickt, aber originell.
    Heute konnte man sich den ganzen Tag lang vorstellen, wie es im Sommer sein muss: windstill, blauer Himmel, Friede im Land. Bei der Ankunft in La Romieu konnten wir in kurzer Hose und T-Shirt noch zwei Stunden lang auf dem Hauptplatz an den Kaffeehaustischen in der Sonne sitzen, den ersten Durst mit einer pression löschen, den Katzen beim Dösen und den Hunden beim Gähnen zusehen. Es war herrlich. Wobei der Vergleich mit dem Sommer nicht ganz stimmt – da wären wir sicher nicht so gemütlich herumgesessen, sondern hätten unsere Betten gegen die Pilgermassen verteidigt. Tatsächlich haben wir schon öfters von den Menschen auf dem Weg gehört, dass es in der Hauptsaison von Juni bis August zu regelrechten Wettläufen und Schlachten um Schlafplätze, warmes Wasser in der Dusche, die Kochgelegenheit und so weiter kommt. Wir haben nur Sophie wiedergetroffen und uns darüber gefreut. Sophie trägt mittlerweile keinen Rucksack mehr, sondern eine rippenschonende Umhängetasche, wodurch sie wie ein etwas zu groß geratenes Schulmädchen aussieht.
    Wir haben den ganzen Abend lang mit Sophie gekocht und gegessen und getrunken und geredet. Warum sie den Weg geht, wissen wir noch immer nicht – wir haben nicht gewagt, die Frage so direkt zu stellen. Dafür haben wir besprochen, wie schwierig die »Resozialisierung« von uns Pilgern wird. Tatsächlich ist es jetzt schon sehr schwer, sich vorzustellen, in ein Haus zu kommen und nicht gleich damit zu beginnen, Socken und T-Shirts zu waschen und dann über einen Heizkörper zu hängen. Zum Beispiel darf man im richtigen Leben nicht jeden Straßenrand zur öffentlichen Toilette umfunktionieren. Auch müssen wir später wieder lernen, dass, wenn man irgendwo eine Schnur liegen sieht, es nicht unbedingt normal ist, sich einfach ein Stück davon abzuschneiden, nur, weil man es zum Beispiel als Wäscheleine gebrauchen könnte. Auch den Zucker kann man »danach« wieder getrost in den Bars und Cafés lassen. Ebenfalls gehört es sich nicht, Kräuter aus fremden Gärten zu stehlen, um sich damit Tee oder – wie heute – Spaghetti mit Butter und Salbei zu machen.
Condom, 15. Oktober
    Liebe Michi!
    Wie immer sitzen wir in einer kleinen Bar und trinken

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