Lesereise - Jakobsweg
daruntergelegt. Auf dem Sofa daneben liegt eine Konzertgitarre. Ich frage, ob hier viel Hausmusik gemacht werde. »Oh, ich spiele sehr schlecht«, sagt Xavier. »Aber ich stamme aus einer musischen Familie. Ihr seid aus dem Land der Operette. Ihr kennt sicher Jacques Offenbach.« Wir kennen. »Jacques Offenbach war der große Konkurrent meines Urgroßvaters als Komponist im Paris des letzten Jahrhunderts. Mein Urgroßvater war sozusagen Salieri, und Offenbach war Mozart …«
Dann setzen wir uns mit unseren beiden Gastgebern an den Tisch aus Massivholz. Xavier trägt Suppe auf, dann gebratene Wachteln mit Kartoffelgratin, dann Salat, dann Käse, dann einen Himbeerkuchen. Wir trinken zwei Flaschen Rotwein und werden im Laufe des Abends Freunde. Erst weit nach Mitternacht gehen wir in unseren Stall hinüber und schlafen fantastisch. Auch anderntags, nach dem Frühstück, wären wir noch stundenlang beisammengesessen, wenn uns nicht wieder der Jakobsweg in seinen Bann gezogen hätte.
Aire-sur-l’Adour, 17. Oktober
Der Tag war sonnig, und der Weg verläuft sehr hübsch zwischen Feldern und Wäldern. Kurz nach Le Haget ist ein Bach zu überqueren. Nach der kleinen Brücke führt der richtige Weg geradeaus durch das Maisfeld. Wir sind dem Trampelpfad den Bach entlang gefolgt, was auch sehr nett war. Die Tatsache, dass es uns eine Stunde »gekostet« hat, sehen wir nach drei Wochen Unterwegssein nicht mehr so. Wir haben gelernt, uns über Dinge, die man nicht mehr ändern kann, nicht aufzuregen. Und überhaupt hat sich schon oft genug gezeigt, dass vermeintliche Ärgernisse sich später als Glücksfälle entpuppen.
In Nogaro überlegen wir einen Kaffee lang, wie es weitergehen soll – denn der nächste Ort mit gîte d’étape, Aire-sur-l’Adour, ist 33 Kilometer entfernt, was selbst mit gesunden Beinen an einem Nachmittag schwer zu schaffen ist. Zudem spürt Barbara ihren Knöchel immer noch. In Nogaro selbst wollen wir aber auch nicht bleiben – wir wollen weiter! Also machen wir uns ganz einfach ohne Plan auf den Weg.
Es geht auch sehr gut voran. Doch in der Nähe von Luppé sehen wir plötzlich eine schwarze Front aus dem Westen auf uns zukommen. Die Luft wirkt schon schwer – es wird Regen geben. Wir fühlen uns ein bisschen nach c-Moll, weil wir doch eigentlich gerne zur Adour gekommen wären … Wir beschließen, zur Hauptstraße zu gehen und uns das Hotel anzusehen, das es in Luppé gibt. Es hat zwar einen Stern zu viel für unsere finanziellen Vorstellungen, aber wenn es regnet … Als wir die Hauptstraße erreichen, sehen wir zuerst nicht, in welcher Richtung das Hotel liegt. Die ersten dicken Tropfen fallen. Wir überqueren die Straße, um Ausschau zu halten. Gleichzeitig hält ein Auto neben uns. Eine Dame steigt aus, um Altglas zu entsorgen. »Fahren Sie zufällig nach Aire-sur-l’Adour?« Zehn Minuten später sind wir dort. (Hätten wir uns in der Früh nicht verlaufen, dann wären wir nicht genau in diesem Augenblick an der Straße herausgekommen und hätten die nette Dame nicht getroffen – ein kleines, treffendes Beispiel dafür, wie einen »Umwege« manchmal beschleunigen können …) Bei dieser Art des kleinen »Schummelns« fühlen wir uns auch nicht so schlecht wie beim Busfahren gestern Vormittag. Es ist ungefähr wie der Unterschied zwischen Raubmord und Totschlag in Notwehr.
Freilich haben wir von Aire-sur-l’Adour aus – im strömenden Regen – noch eine ziemliche Strecke zurückzulegen. Denn das centre de loisirs, wo der gîte d’étape untergebracht ist, befindet sich ein wenig außerhalb des Ortes. Wir kommen durchnässt dort an – alles ist fest verschlossen. Wir wählen die Telefonnummern, die in unseren Führern stehen – nichts. Doch schon im gîte d’étape von Condom hatten wir uns die Nummer einer Dame mit privaten Gästezimmern notiert. Fünfzehn Minuten später holt uns Aline Porte bei unserer Telefonzelle ab. Sie ist eine wohlbeleibte, fröhliche Frau, und ihr alter roter 2 CV passt hervorragend zu ihr. »Wir holen Pilger immer ab«, erklärt sie uns, »denn unser Hof liegt nicht nur etwas außerhalb, sondern vor allem etwas oberhalb des Ortes …«
Wenig später beziehen wir unser nettes Zimmer. »Bringt mir doch eure Wäsche«, sagt Madame Porte, »ich wasche sie in der Maschine, und wenn wir sie über dem Ofen aufhängen, dann ist morgen früh alles trocken.«
Wir essen mit der ganzen großen Familie (drei Generationen sind hier versammelt) zu Abend. Ich glaube,
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