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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Freund
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wir fallen gar nicht weiter auf – sitzen eben zwei große Kinder mehr bei Tisch. Es ist ein Festmahl: Gemüsesuppe, Entenbraten, Kuchen, Rotwein. Die Familie Porte lebt in erster Linie von der Geflügelzucht. Wir erfahren viel über Enten, Gänse und französische Landwirtschaft, und die Portes erfahren viel über Österreich und das Pilgern. Wir fühlen uns wohl in dieser herzlichen Atmosphäre. Gegen Mitternacht gehen wir zu Bett und schlafen zufrieden ein.
Arzacq-Arraziguet, 18. Oktober
    Die Familie Porte war auch in der Früh noch äußerst nett zu uns. Dreihundert Franc hatten wir als Preis für Übernachtung, Abendessen und Frühstück ausgemacht, für beide, wohlgemerkt. In der Früh wollte Frau Porte davon nichts mehr wissen. Sie wollte partout nur noch zweihundert Franc annehmen, und außerdem hat sie darauf bestanden, uns ein Glas rillettes de canard, eine Art Entenpastete, mitzugeben. Wir haben nun schon öfter gehört, dass man solches Entgegenkommen und solche Freundlichkeit einfach dankend annehmen sollte. Und man beleidigt die Menschen wirklich, wenn man versucht, trotzdem mehr zu bezahlen. Viel besser kann man seine Dankbarkeit zeigen, indem man sich mit einer Postkarte aus dem Zielort oder mit einem kleinen Geschenk aus der Heimat erkenntlich zeigt.
    Madame Portes Tochter hat uns dann mit dem Auto wieder zum Weg zurückgebracht. »Ich bringe euch ein paar Kilometer weiter«, hat sie gemeint, »ihr werdet heute ohnehin nur Maisfelder sehen, ihr versäumt nichts.«
    So versäumen wir zwar Aire-sur-l’Adour, die ehemalige Hauptstadt des Westgotenreichs von Alarich II., wo man das Nebeneinander von römisch-heidnischer, gotisch-arianischer und christlicher Kultur bis heute sehen kann. Dafür lernen wir aber jemanden kennen. Das Timing ist perfekt. Kaum sind wir eine halbe Stunde gegangen, kommt uns ein seltsames Paar entgegengetrottet – der Schweizer Pilger mit dem Esel! Er habe sich verlaufen, erzählt Jean, in diesen ganzen Maisfeldern finde er sich überhaupt nicht zurecht. Jean ist ein pensionierter Mechaniker aus Genf. Er ist Ende August in seiner Heimatstadt losgegangen und lässt sich Zeit. Zum Teil braucht er aber auch länger, weil sein Esel Pflege benötigt: So habe er zum Beispiel schon mehr als eine Woche auf neue Hufeisen gewartet. Jean geht gerne. Und er geht aus karitativen Gründen, für eine Schweizer Organisation, die versucht, das Leid und die Armut alter Menschen zu lindern. Mehrere Firmen haben Preise dafür ausgesetzt, dass Jean und seine Eselin Modestine Santiago erreichen – dieses Geld würde er dann der karitativen Organisation übergeben.
    Während wir so mit Jean und seiner langohrigen Modestine dahintrotten, muss ich an einen meiner Lieblingssätze aus Kurt Tucholskys »Ein Pyrenäenbuch« denken: »Es rieselte vom Himmel herunter, und die Esel, der Führer und ich, dies ist keine Apposition, waren schon nass, als wir aus dem Dorf herauskamen.« Wir beneiden Jean zunächst sehr. Seine Modestine trägt das ganze Gewicht; er selbst kann frei und unbeschwert gehen. Allerdings schlägt unser Neid sehr bald in Mitleid um – nach einem Tag mit Jean wissen wir, dass es äußerst schwierig ist, mit einem Esel zu gehen. Nicht wegen der Apposition, sondern wegen der Opposition.
    Der erste Verdacht kam uns bereits, als wir die beiden sahen – Jean und Modestine waren gleichermaßen schlammbespritzt, und sie rochen auch ganz ähnlich. Kein Wunder, wenn man Tag und Nacht immer so nahe beieinandersteckt. Und das müssen sie. Modestine braucht in der Nacht eine Wiese zum Fressen, und deshalb campiert Jean meistens neben ihr. Da er fast nie Pilgerherbergen aufsuchen kann, kommt er auch sehr selten zu einer Dusche, und, was er schlimmer findet, zu Gesellschaft. Er redet zwar nicht sehr viel, aber man merkt, dass er froh über unsere Begleitung ist.
    Wir konnten ihm an einer heiklen Stelle auch tatsächlich weiterhelfen. Modestine weigert sich nämlich, über schmale Brücken zu gehen. Und sie ist wasserscheu. Deshalb war auch an einem winzigen Bächlein, über das eine winzige Holzbrücke führte, Endstation. Gutes Zureden half ebensowenig wie ein paar energische Stockschläge: Modestine rührte sich keinen Zentimeter. Nun sollte man glauben, dass drei Erwachsene mühelos einen kleinen Esel in Bewegung setzen können, aber das stimmt nicht. »Die Esel«, hatte uns schon Xavier in Le Haget erklärt, »haben eine schreckliche Kraft. Im Gegensatz zu den Menschen überlegen sie, bevor sie

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