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Lesereise - Jakobsweg

Lesereise - Jakobsweg

Titel: Lesereise - Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Freund
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etwas tun, und wenn sie zu dem Schluss kommen, dass das, was sie tun sollen, nicht vernünftig ist, dann tun sie es einfach nicht.«
    Genauso war es. Wir mussten zu einer List greifen.
    Wir wanden ein Seil um die Beine des Esels und versuchten, ihn zu Fall zu bringen. Vor die neue Alternative gestellt, zu stürzen oder über das Bächlein zu gehen, entschied sich Modestine für Gehen. Das allerdings überfallsartig, weshalb Jean im Bach landete und wir von oben bis unten angespritzt wurden.
    Als sehr idyllisch habe ich dafür unsere Mittagspause in der kleinen romanischen Kirche von Sensacq in Erinnerung: Wir drei saßen, weil es wieder einmal regnete, auf den Kirchenbänken und aßen unser Käsebrot, während der Esel draußen die Gräber abgraste.
    Am Nachmittag, wenn der Pilgerschritt sich üblicherweise zu verlangsamen beginnt, kommt Modestine erst so richtig in Form. Da heißt es Schritt halten. So schnell wie an diesem Nachmittag waren wir noch selten. Dadurch konnten wir auch nicht allzu lange über ein Schild nachdenken, das an der Vorderfront eines Hauses befestigt war: »Compostelle 924 km« stand darauf. Jean geriet richtiggehend in Ekstase darüber, vollführte einen Freudentanz und lachte: »Na bitte, wir kommen ja doch weiter! Das ist ja wunderbar, wie schnell wir sind! Das ist ja fast nichts mehr!« Er sah unsere entgeisterten Blicke und fügte leise hinzu: »Naja, nur noch 924 Kilometer eben …«
    In Arzacq-Arraziguet sind es nur noch 919 Kilometer bis Santiago. Der Ort wirkt ausgestorben – ein typischer Sonntagnachmittag. Wir haben wieder einmal so richtig das Gefühl, »draußen« zu sein, während alle anderen »drinnen« sind – im Auto, im Garten, im Haus, in der Familie … Jean findet auf dem Campingplatz neben unserem gîte d’étape Unterkunft. Wir überreden ihn, Modestine einfach alleine zu lassen und mit uns eine Pizza essen zu gehen. Es ist sein erstes Essen in Gesellschaft seit zwei Wochen, und er hat Tränen in den Augen.
Arthez-de-Béarn, 19. Oktober
    Wir verlassen Jean und Modestine in der Früh – bis das Zelt abgebaut und der Esel bepackt ist, vergeht eine lange Zeit. »Ihr holt uns ohnehin ein«, sagen wir und winken den beiden. Wir sehen sie nie wieder. Aber auch Sophie und Henri und Vélimir und Guy-Marie und Véronique haben wir verloren. Man gewöhnt es sich als Pilger ab, großartig Abschied voneinander zu nehmen. Noch weniger macht man sich fixe Treffpunkte für den Abend aus – denn jeder weiß, dass Etappen oft ganz anders enden können, als man glaubt.
    Dafür erhalten wir heute wieder Nachricht von unseren unbekannten Freunden Ursula und Marco. Nach einem sonnigen und angenehmen Gehtag, der uns über sanfte Hügel und durch ockerfarbene Felder führte, kommen wir müde in Arthez an. Bei einem kleinen Bier im Café am Platz erkunden wir, wo der gîte d’étape ist. Die Dame, die sich darum kümmert, wohnt genau gegenüber. Sie begleitet uns, sperrt uns die Türen auf und zeigt uns die Zimmer. Barbara sucht gleich im Herbergsbuch nach alten Bekannten. Keine Spur von Ursula und Marco. »Viele sind ja zur Zeit nicht mehr unterwegs«, meint unsere Herbergsmutter. »Aber vor ein paar Tagen waren zwei Pilger hier. Oh, was habe ich mit denen gelacht. Es waren eine Deutsche und ein Italiener.« Wir fragen nach, ob der Italiener nicht vielleicht ein Schweizer gewesen sein könnte. »Schon möglich«, meint sie. »Mit den Schweizern kennt sich ja keiner aus. Aber er war ein hübscher Junge. So viel steht fest.« Kein Zweifel – Marco. Wir fragen weiter, sehr indiskret – und diese Deutsche und dieser Schweizer, haben die ein bisschen verliebt gewirkt? »Ein bisschen!« Unsere Informantin erstickt fast vor Lachen. »Die beiden haben geturtelt wie die Tauben!«
Navarrenx, 20. Oktober
    Der Sohn unserer Herbergsbetreuerin hat uns einen Abschneider verraten. Statt unserem Wanderweg, dem GR 65, zu folgen, sollten wir nach Mont hinuntergehen. »Dann kommt ihr an meiner Fabrik vorbei«, hat er gesagt und das riesige »elf«-Werk gemeint, in dem die hiesigen Erdgasvorkommen verarbeitet werden. Nach der Fabrik sollen wir dann nach rechts abbiegen und später auf einer ehemaligen Pipeline den Fluss überqueren. Das Unternehmen klingt ein bisschen unheimlich, zumal wir den jungen Mann fast nicht verstehen – der Dialekt des Béarn, den er spricht, hat nur entfernt mit Französisch zu tun.
    Die Pipeline führt zu unserer Beruhigung über eine Brücke. Die Brückenköpfe allerdings

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