Lesereise - Jakobsweg
sind mit riesigen Stacheldrahtzäunen und Schildern mit Totenköpfen darauf abgesichert. Doch zum Glück entdecken wir das angekündigte winzige Schlupfloch im Zaun und klettern über die Brücke. Auf der anderen Seite das gleiche Bild – doch wieder mit Schlupfloch. Bald darauf finden wir unseren Jakobsweg wieder. Die Abkürzung, das stimmt uns froh, hat uns nicht sehr viel Zeit gekostet. Ich nehme an, der junge Mann wollte uns einfach »seine« Fabrik zeigen, weil er stolz darauf ist.
Nach der Gasfabrik haben wir nur noch drei Menschen getroffen: einen freundlichen Bauern, der uns die Geschichte dieser Region näherbrachte. Der Béarn wurde erst 1620 mit der französischen Krone vereinigt. Vorher war er unabhängig gewesen, zeitweise protestantisch, mal spanischen, mal englischen Einflüssen ausgesetzt.
Die anderen beiden Menschen waren zwei Bauern, die sich mit ihren Traktoren zufällig an einer Kreuzung trafen. Da wir gerade dort eine kleine Pause machten, konnten wir beobachten, wie die beiden eine gute halbe Stunde miteinander plauderten – natürlich ohne vom Traktor zu steigen oder gar den Motor abzustellen.
Von unserem Rastplatz aus hatten wir einen – ich strapaziere das Wort nicht oft – unvergesslichen Blick auf die Pyrenäen. Ich glaube, wir konnten fast die ganze lange Gebirgskette sehen, die schroffen, rötlichen, hohen Zacken im Osten, die sanfteren, runderen Berge im Westen. Ich musste abermals an Kurt Tucholsky denken und an sein wunderbares Buch, das er bescheiden »Ein Pyrenäenbuch« nennt, das aber »Das Pyrenäenbuch« ist. Auf der ersten Seite erinnert er sich an den Geografieunterricht in der Schule: »Pyrenäen – das war so eine rostbraune Sache auf der sonst grünen und schwarzen Karte, darin ein paar Bergkleckse standen, rechts und links gefiel sich die Karte in Blau, das war das Meer … Ja, und sie trennten Spanien und Frankreich. Auch musste man jedesmal ein kleines bisschen nachdenken, bevor man den Namen schrieb.«
Ich muss heute noch jedesmal nachdenken, bevor ich den Namen schreibe.
Das Wetter ist schön, das Ziel vor Augen – die Pyrenäen – motivierend, die Etappe aber durch das viele Auf und Ab lange und anstrengend. Wir kommen erst bei Einbruch der Dunkelheit in Navarrenx an – zu spät jedenfalls, um zum täglichen Pilgerempfang des Pfarrers zu gehen, der, den Gerüchten nach, eine sehr unkonventionelle und heitere Persönlichkeit sein soll. Der gîte d’étape ist im ehemaligen Arsenal der Stadt untergebracht und ohne Tadel. Im hiesigen Pilgerbuch finden wir eine Nachricht, die uns irritiert: »Ich habe hier zwar alleine, aber sehr gut geschlafen. Kein Wunder – die Wirtin gab mir auch den Tipp für die beste Matratze! Ursula (Hof/Bayern->Santiago) P.S.: Man bekommt auch nach zweitausend Kilometern noch Blasen – hätte ich nicht gedacht!« Wo ist Marco geblieben? Leidet Ursula wirklich so, dass sie sogar noch Blasen bekommen muss?
Saint-Palais, 21. Oktober
Hinter Navarrenx beginnt das französische Baskenland. Man hört ja nichts Gutes vom Baskenland, im Fernsehen und in den Zeitungen. Die französischen Basken sind freilich weniger radikal als die spanischen – sie würden von einer Unabhängigkeit auch nicht profitieren, da sie außer Schaf- und Schweinezucht keine nennenswerten Einnahmequellen in ihrem Land haben. Bei den spanischen Basken ist das anders – in Spanien ist der Norden (wie in fast allen europäischen Ländern) das Zentrum der Industrie. Im baskischen Konflikt geht es also wie immer nicht nur um Nationalstolz, sondern um Geld, und das wollen die spanischen Basken lieber mit ihren wenigen französischen Brüdern als mit der gesamten spanischen Nation teilen … Aber über derlei Dinge redet man hier lieber nicht allzu laut. In Spanien werde ich zum Glück nicht in Versuchung kommen, allzu viel über das Thema zu erfragen, weil ich weder Baskisch noch Spanisch kann. Von Radikalität merken wir jedenfalls weder hier noch da etwas – von ein paar beschmierten Wänden abgesehen. Auch ist das Baskenland groß, und die Zentren des Terrors liegen woanders. Wir müssen an die Geschichte eines peruanischen Musikers denken, den wir vor einigen Jahren bei einem Musikfestival in Graz kennenlernten. Der gute Mann hatte voller Erleichterung festgestellt, dass es in Österreich gar nicht so schlimm sei, wie man allgemein glaube. Wir fragten ihn, was denn so schlimm sein könne. »Die Mafia!«, flüsterte er uns zu. Er habe mit seiner Frau vor seiner
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