Lesereise - Jakobsweg
aus jener Zeit. Wir fühlen uns hier sehr wohl. Der Nachbar, der für den gîte d’étape zuständig ist, bringt uns Holz für den kleinen Eisenofen und schenkt uns Eier für unser Abendessen. Die Menschen sind einsilbig hier und sehr herzlich.
Saint-Jean-Pied-de-Port, 23. Oktober
Da sind wir nun nach genau einem Monat am Fuß der Pyrenäen angekommen. Morgen werden wir in eine neue Welt eintauchen. Wir freuen uns darauf, auch wenn wir wenig Erfahrungen mit Spanien haben und kaum Spanisch sprechen.
Heute war es richtig heiß. Der Grund für das seltsame Klima ist ein Föhnsturm, ja, auch hier gibt es so etwas – »le fœn« sagen die Gebildeten dazu. Die anderen nennen den Sturm bei seinem traditionellen Namen »le fou«, »der Verrückte«. Der heftige Südwind lockt auch die Schlangen wieder heraus. Auf unserem Weg liegt plötzlich eine Viper, kurz, aber so dick, wie ich noch nie eine gesehen habe. Ich halte im Schritt inne. Sie überlegt eine Sekunde lang, ob sie angreifen soll, entscheidet sich dann aber für Rückzug. An diesem Tag jagt mir das Rascheln jeder Eidechse die Gänsehaut über den Rücken.
Als wir durch das Jakobstor in Saint-Jean-Pied-de-Port einziehen, sind wir schon ein bisschen stolz auf unsere »Leistung«. Über siebenhundert Kilometer zu Fuß. Halbzeit.
Wir holen unsere poste restante vom Postamt (darunter die Wanderführer für Spanien, die wir uns dorthin geschickt haben), erledigen ein paar Einkäufe, nehmen im hässlichen gîte d’étape Quartier und suchen dann Madame Débril auf, eine der Legenden des Weges. Wenn man nach Saint-Jean-Pied-de-Port kommt, dann muss man Madame Débril besuchen, das haben wir nicht nur einmal gehört. Sie gibt einem das credencial del peregrino, den Pilgerpass, den man in Spanien verpflichtend braucht, um in den refugios, den offiziellen Pilgerherbergen, nächtigen zu können. (Es soll übrigens in Saint-Jean-Pied-de-Port einen schwunghaften Schwarzhandel mit gefälschten credencials geben.) Auch die Kanadier, unsere Pilgerbekanntschaft, haben uns von Madame Débril erzählt. Sie haben ihr sogar verziehen, dass sie sie um drei Uhr nachmittags auf den Weg über die Pyrenäen geschickt hat. Guy-Marie und Véronique waren damals erst um elf Uhr nachts in Roncesvalles angekommen, weil sie sich in der Dunkelheit und im Nebel verirrt hatten. Sie waren daraufhin so erschöpft, dass sie am nächsten Tag nur fünf Kilometer gehen konnten. »Aber Madame Débril – die müsst ihr unbedingt besuchen.« Ich will es kurz machen, kürzer jedenfalls als unseren Besuch bei der alten Dame, die in ihrem völlig chaotischen Arbeitszimmer Hof und lange Predigten hält. Ein älterer Herr saß bereits bei ihr, offensichtlich einem Nervenzusammenbruch nahe. Immer wieder machte er Anspielungen auf seinen Pilgerpass und darauf, dass die Geschäfte bald zusperren … Und Madame Débril ließ sich einstweilen über die miese Qualität der Wanderführer aus und über Pilger, die es wagen, in Pilgerherbergen zu übernachten, obwohl sie mit dem Zug hier angekommen sind, und über Räuber, die offizielle Stempel aus ihrem Büro gestohlen haben, und über den hässlichen Palast von Antonio Gaudí in Astorga und über die »barbarischen Basken« und und und. Wir saßen genau eineinhalb Stunden bei ihr. Die Pointe: Es war völlig vergebens. Denn mit unserer schönen Stempelsammlung vom französischen Weg würden wir in Roncesvalles ganz problemlos das credencial bekommen. Das wäre ihr lieber, meinte Madame Débril, denn es würde sie nicht so viel Zeit kosten!
Den Abend haben wir damit verbracht, unsere Post zu lesen. Lange Briefe von Freunden zu bekommen – das ist Heimat. Was wir alles versäumen! Und wie gut alle leben ohne uns! Fast schon empörend!
Roncesvalles, 24. Oktober
Die Pyrenäen sind tückisch. Nicht, dass sie hier im Westen irgendwie besonders gefährlich oder aufregend wären. Es sind eher »Kuhhügel«, wie die Leute hier sagen. Aber tückisch sind sie, weil man einen ganzen Tag lang mehr oder weniger bergab auf sie hinaufsteigt. Und erst wenn man glaubt, es ginge wirklich bergab, beginnt die gewaltige Steigung auf den Ibañeta-Pass.
Man hat uns geraten, nicht die alte »Route Napoléon« zu gehen, die zwar viel schöner, aber auch sehr einsam ist. Das Wetter sei am Kippen, wir sollten lieber die Straße entlanggehen. An der Straße zu gehen ist selten ein besonderes Vergnügen, und noch weniger, wenn einem – an einem seltsam grauen Tag – der Föhnsturm mit
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